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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Dorf aufgefressen werde. Bei den Elgonyi geschähe aber solches nie. Wohl<br />

würden die Leichen in den Busch gelegt, wo die Hyänen im Lauf der Nacht<br />

das Begräbnis erledigten. In der T<strong>at</strong> fanden wir nie Spuren einer<br />

Totenbest<strong>at</strong>tung.<br />

Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich aber, daß wenn ein Mann stirbt, seine<br />

Leiche in die Mitte der Hütte auf den Boden gelegt werde. Der Laibon<br />

umwandle sie und spritze aus einer Schale Milch auf den Boden, indem er<br />

dazu murmle: «ayik adhtsta, adhista aylk!»<br />

Die Bedeutung dieser Worte war mir bereits bekannt aus einem<br />

denkwürdigen Palaver, das unterdessen st<strong>at</strong>tgefunden h<strong>at</strong>te. Am Schluß jenes<br />

Palavers rief ein Alter plötzlich: «Am Morgen, wenn die Sonne kommt, gehen<br />

wir aus den Hütten, spucken in die Hände und halten sie der Sonne hin.» Ich<br />

ließ mir die Zeremonie vormachen und genau beschreiben. Sie spuckten oder<br />

bliesen heftig in die vor den Mund gehaltenen Hände und kehrten sie dann<br />

um, die Handflächen gegen die Sonne. Ich fragte, was das bedeute, warum sie<br />

es täten, warum sie in die Hände bliesen oder spuckten. Vergebens - «das h<strong>at</strong><br />

man immer gemacht», sagten sie. Es war unmöglich, irgendeine Erklärung zu<br />

bekommen, und es wurde mir klar, daß sie t<strong>at</strong>sächlich nur wissen, daß sie es<br />

tun, nicht aber, was sie tun. Sie sehen keinen Sinn in dieser Handlung. Aber<br />

auch wir vollziehen Zeremonien - zünden den Weihnachtsbaum an,<br />

verstecken Ostereier usw. - ohne uns jedoch darüber klar zu sein, was wir tun.<br />

Der alte Mann sagte, daß dies die wahre Religion aller Völker sei - alle<br />

Kevirondos, alle Buyanda, alle Stämme, soweit man vom Berge sehen könne<br />

und noch unendlich viel weiter, alle verehrten «adhista», das ist die Sonne im<br />

Moment des Aufgangs. Nur dann ist sie «mungu», Gott. Die erste feine<br />

Goldsichel des neuen Mondes im Purpur des Westhimmels ist auch Gott.<br />

Aber nur dann, sonst nicht.<br />

Offenbar handelt es sich bei der Elgonyizeremonie um eine Darbringung<br />

an die Sonne, die im Augenblick ihres Aufgangs göttlich ist. Wenn es<br />

Speichel ist, so ist es die Substanz, die nach primitiver Auffassung das<br />

persönliche Mana, die Heil-, Zauber- und Lebenskraft enthält. Ist es der<br />

Atem, so ist er roho. arabisch ruch, hebräisch mach, griechisch pneuma, Wind<br />

und Geist. Die Handlung sagt also: «Ich biete Gott meine lebendige Seele<br />

an.» Es ist ein wortloses, gehandeltes Gebet, das ebensogut lauten könnte:<br />

«Herr, in Deine Hände befehle ich meinen Geist.»<br />

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