30.12.2012 Aufrufe

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

schien ähnlich zu denken wie ich. Aber bald merkte ich, daß sie mir im<br />

Gespräch nicht genügte. Sie h<strong>at</strong> mich vor allem bewundert, und das war nicht<br />

gut für mich. So blieb ich mit meinen <strong>Gedanken</strong> allein. Das war ich auch am<br />

liebsten. Ich habe allein für mich gespielt, bin allein gewandert, habe geträumt<br />

und h<strong>at</strong>te eine geheimnisvolle Welt für mich allein.<br />

Meine Mutter war mir eine sehr gute Mutter. Sie h<strong>at</strong>te eine große<br />

animalische Wärme, war ungeheuer gemütlich und sehr korpulent. Sie h<strong>at</strong>te<br />

für alle Leute ein Ohr; auch plauderte sie gern, und das war wie ein munteres<br />

Geplätscher. Sie h<strong>at</strong>te eine ausgesprochene literarische Begabung,<br />

Geschmack und Tiefe. Aber das kam eigentlich nirgends recht zum Ausdruck;<br />

es blieb verborgen hinter einer wirklich lieben dicken alten Frau, die sehr<br />

gastfreundlich war, ausgezeichnet kochte und viel Sinn h<strong>at</strong>te für Humor. Sie<br />

h<strong>at</strong>te alle hergebrachten traditionellen Meinungen, die man haben kann, aber<br />

handkehrum tr<strong>at</strong> bei ihr eine unbewußte Persönlichkeit in Erscheinung, die<br />

ungeahnt mächtig war - eine dunkle, große Gestalt, die unantastbare Autorität<br />

besaß - darüber gab's keinen Zweifel. Ich war sicher, daß auch sie aus zwei<br />

Personen bestand:<br />

die eine war harmlos und menschlich, die andere dagegen schien mir<br />

unheimlich. Sie kam nur zeitweise zum Vorschein, aber immer unerwartet<br />

und erschreckend. Sie sprach dann wie zu sich selber, aber das Gesagte galt<br />

mir und traf mich gewöhnlich im Innersten, so daß ich in der Regel sprachlos<br />

war.<br />

Der erste Fall, an den ich mich zu erinnern vermag, ereignete sich, als ich<br />

etwa sechs Jahre alt war, aber noch nicht zur Schule ging. Wir h<strong>at</strong>ten damals<br />

Nachbarn, die leidlich situierte Leute waren. Sie h<strong>at</strong>ten drei Kinder. Das<br />

älteste war ein Sohn, etwa <strong>von</strong> meinem Alter, und zwei jüngere Schwestern.<br />

Es waren eigentlich Stadtleute, die ihre Kinder namentlich sonntags in einer<br />

mir lächerlichen Weise herausputzten - Glanzschühchen, Spitzenhöschen,<br />

weiße Handschühchen, sauber gewaschen und gekämmt auch am Werktag.<br />

Die Kinderchen hielten sich ängstlich fern <strong>von</strong> dem großen Lausbuben mit<br />

zerrissenen Hosen, löcherigen Schuhen und schmutzigen Händen und h<strong>at</strong>ten<br />

ein feines Benehmen. Meine Mutter ärgerte mich grenzenlos mit Vergleichen<br />

und Ermahnungen:<br />

«Sieh dir diese netten Kinder an, die sind wohlerzogen und höflich, und du<br />

bist ein Flegel, mit dem man nichts anfangen kann.» Solche Ermahnungen<br />

t<strong>at</strong>en es mir an, und ich beschloß, den <strong>Jung</strong>en durchzuhauen. Was dann auch<br />

geschah. Über dieses Malheur<br />

54

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!