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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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als ein finsteres Innenreich betrachtete. Nr. 2 empfand den möglichen<br />

Ausdruck seiner selbst als einen Stein, der vom Rande der Welt geworfen<br />

wurde und in nächtlicher Unendlichkeit lautlos versank. In ihm (Nr. 2) selber<br />

aber herrschte Licht wie in den weiten Räumen eines königlichen Palastes,<br />

dessen hohe Fenster sich auf eine sonnendurchflutete Landschaft öffneten.<br />

Hier herrschte Sinn und historische Kontinuität in strengstem Gegens<strong>at</strong>z zur<br />

zusammenhanglosen Zufälligkeit des Nr. l-Lebens, das in seiner unmittelbaren<br />

Umgebung eigentlich keine Anknüpfungspunkte fand. Nr. 2<br />

dagegen fühlte sich in heimlicher Übereinstimmung mit dem Mittelalter,<br />

personifiziert in Faust, dem Vermächtnis verflossener Zeiten, <strong>von</strong> dem<br />

offenbar Goethe aufs stärkste angerührt war. Also auch ihm - das war mein<br />

großer Trost - war Nr. 2 eine Wirklichkeit. Faust - das ahnte ich mit einigem<br />

Schrecken - bedeutete mir mehr als mein geliebtes Johannesevangelium. In<br />

ihm lebte etwas, das ich unmittelbar nachfühlen konnte. Der johanneische<br />

Christus war mir fremd, aber noch fremder war der synoptische Heilbringer.<br />

Faust dagegen war ein lebendiges Äquivalent <strong>von</strong> Nr. 2, welches mich da<strong>von</strong><br />

überzeugte, daß er die Antwort darstellte, die Goethe auf die Frage seiner Zeit<br />

gegeben h<strong>at</strong>te. Diese Einsicht war mir nicht nur tröstlich, sondern gab mir<br />

auch vermehrte innere Sicherheit und die Gewißheit, zur menschlichen Gesellschaft<br />

zu gehören. Ich war nicht mehr der Einzige und ein bloßes<br />

Kuriosum, sozusagen ein lusus der grausamen N<strong>at</strong>ur. Mein P<strong>at</strong>e und<br />

Gewährsmann war der große Goethe selber.<br />

Hier hörte allerdings das vorläufige Verständnis auf. Trotz meiner<br />

Bewunderung kritisierte ich die endgültige Lösung des Faust. Die spielerische<br />

Unterschätzung Mephistos kränkte mich persönlich, ebenso Faustens ruchlose<br />

Überheblichkeit und vor allem der Mord an Philemon und Baucis.<br />

In dieser Zeit h<strong>at</strong>te ich einen unvergeßlichen Traum, der mich zugleich<br />

erschreckte und ermutigte. Es war Nacht an einem unbekannten Orte, und ich<br />

kam nur mühsam voran gegen einen mächtigen Sturmwind. Zudem herrschte<br />

dichter Nebel. Ich hielt und schützte mit beiden Händen ein kleines Licht, das<br />

jeden Augenblick zu erlöschen drohte. Es hing aber alles da<strong>von</strong> ab, daß ich<br />

dieses Lichtlein am Leben erhielt. Plötzlich h<strong>at</strong>te ich das Gefühl, daß etwas<br />

mir nachfolge. Ich schaute zurück und sah eine riesengroße schwarze Gestalt,<br />

die hinter mir herkam. Ich war mir aber<br />

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