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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Turmes befände und ein anderes draußen. Bald herrschte das eine, bald das<br />

andere vor, als gäben sie sich gegenseitig Antwort.<br />

Ich saß und lauschte fasziniert. Weit über eine Stunde hörte ich dem<br />

Konzert zu, dieser zauberhaften N<strong>at</strong>urmelodie. Es war eine leise Musik mit<br />

allen Disharmonien der N<strong>at</strong>ur. Und das war richtig, denn die N<strong>at</strong>ur ist nicht<br />

nur harmonisch, sondern auch furchtbar gegensätzlich und chaotisch. So war<br />

auch die Musik: ein Strömen <strong>von</strong> Klängen, wie die N<strong>at</strong>ur des Wassers und<br />

des Windes - so wundersam, daß man es überhaupt nicht beschreiben kann.<br />

Im Vorfrühling 1924 war ich wiederum in Bollingen. Ich war allein und<br />

h<strong>at</strong>te mir den Ofen angeheizt. Es war ein ähnlich stiller Abend. Nachts<br />

erwachte ich an leisen Schritten, die den Turm umkreisten. Es ertönte auch<br />

eine ferne Musik, die näher und näher kam, und dann hörte ich Stimmen -<br />

Lachen und Reden. Ich dachte:<br />

Wer geht denn da herum? Was ist denn das? Es gibt ja nur den kleinen<br />

Fußpfad längs des Sees, und der wird kaum je begangen! Während dieser<br />

Überlegungen war ich hell wach geworden und ging ans Fenster. Ich öffnete<br />

die Läden und - alles war still. Es waren keine Menschen zu sehen, und nichts<br />

war zu hören - kein Wind - nichts - gar nichts.<br />

Das ist doch merkwürdig, dachte ich. Ich war überzeugt, das Getrappel, das<br />

Lachen und Sprechen seien wirklich gewesen! Aber anscheinend h<strong>at</strong>te ich nur<br />

geträumt. Ich ging wieder zu Bett und dachte darüber nach, wie man sich<br />

doch täuschen könne, und woher es käme, daß ich einen derartigen Traum<br />

h<strong>at</strong>te. Über diesen <strong>Gedanken</strong> schlief ich wieder ein, und - sofort begann<br />

derselbe Traum:<br />

wieder hörte ich Schritte, Sprechen, Lachen, Musik. Dabei h<strong>at</strong>te ich die<br />

visuelle Vorstellung <strong>von</strong> mehreren hundert dunkel gekleideten Gestalten,<br />

vielleicht Bauernburschen in ihren Sonntagsgewändern, die <strong>von</strong> den Bergen<br />

hergekommen waren und <strong>von</strong> beiden Seiten den Turm umströmten, mit viel<br />

Getrappel, Lachen, Singen und Akkordeon-Spiel. Ärgerlich dachte ich: Das<br />

ist zum Teufelholen! Ich meinte, es sei ein Traum gewesen, und jetzt ist es<br />

doch Wirklichkeit! Mit dieser Emotion erwachte ich. Wieder sprang ich auf,<br />

machte Fenster und Läden auf, aber alles war gleich wie zuvor, eine<br />

totenstille Mondnacht. Da dachte ich: Das ist ja einfach Spuk!<br />

N<strong>at</strong>ürlich fragte ich mich, was es heiße, daß ein Traum dermaßen auf seiner<br />

Wirklichkeit und dem Wachsein insistierte. Das kommt sonst nur bei Spuk<br />

vor. Wachsein heißt Wirklichkeit wahr-<br />

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