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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Von Tozeur begab ich mich in die Oase <strong>von</strong> Nefta. Ich ritt mit meinem<br />

Dragoman am frühen Morgen kurz nach Sonnenaufgang weg. Unsere<br />

Reittiere waren große, schnelltrottende Maultiere, mit denen man rasch<br />

vorankam. Als wir uns der Oase näherten, kam uns ein einzelner, ganz in<br />

Weiß gehüllter Reiter entgegen, der in stolzer Haltung, ohne zu grüßen, auf<br />

einem schwarzen Maultier mit schönem, silberbeschlagenem Lederzeug an<br />

uns vorbeiritt. Es war eine eindrucksvolle, elegante Gestalt. Sicherlich besaß<br />

er noch keine Taschen-, geschweige denn eine Armbanduhr, denn er war<br />

offenkundig und ohne es zu wissen der, der schon immer gewesen war. Noch<br />

fehlte ihm jenes leicht Närrische, d as dem Europäer anhaftet. Der Europäer ist<br />

zwar überzeugt, nicht mehr das zu sein, was er vor Alters gewesen ist, weiß<br />

aber noch nicht, zu was er inzwischen geworden ist. Die Uhr sagt es ihm, daß<br />

sich seit dem sogenannten Mittelalter bei ihm die Zeit und ihr Synonym, der<br />

Fortschritt, eingeschlichen und ihm Unwiederbringliches weggenommen<br />

haben. Mit erleichtertem Gepäck setzt er seine Wanderung nach nebelhaften<br />

Zielen mit progressiver Beschleunigung fort. Den Verlust an Gewicht und das<br />

entsprechende «sentiment d'incomple -titude» kompensiert er durch die<br />

Illusion seiner Erfolge, wie Eisenbahnen, Motorschiffe, Flugzeuge und<br />

Raketen, die mittels ihrer Schnelligkeit immer mehr <strong>von</strong> seiner Dauer<br />

wegnehmen und ihn zunehmend in eine andere Wirklichkeit <strong>von</strong><br />

Geschwindigkeiten und explosionsartigen Beschleunigungen versetzen.<br />

Je weiter wir in die Sahara vordrangen, desto mehr verlangsamte sich<br />

meine Zeit und drohte sogar rückläufig zu werden. Die sich steigernde<br />

flimmernde Hitze trug kräftig zu meinem Traumzustand bei, und als wir die<br />

ersten Palmen und Häuser der Oase erreichten, da war alles so, wie es schon<br />

immer gewesen war.<br />

Am anderen Morgen in der Frühe erwachte ich in meiner Herberge an<br />

vielfältigem, mir ungewohntem Geräusch vor dem Hause. Dort befand sich<br />

ein großer offener Pl<strong>at</strong>z, der abends zuvor leer gewesen, jetzt aber <strong>von</strong><br />

Menschen, Kamelen, Maultieren und Eseln angefüllt war. Die Kamele<br />

stöhnten und bekundeten in mannigfachen Tonvarianten ihr chronisches<br />

Mißvergnügen, und die Esel wetteiferten in mißtönendem Geschrei. Die<br />

Leute liefen in offensichtlicher Erregung schreiend und gestikulierend herum.<br />

Sie sahen wild und wenig vertrauenerweckend aus. Mein Dragoman erklärte<br />

mir, daß heute ein großes Fest gefeiert werde. Es seien in der Nacht einige<br />

Wüstenstämme hereingekommen, um für den Marabout<br />

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