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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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trieb wie entzweite Brüder und Söhne eines V<strong>at</strong>ers seien, einer motivierenden<br />

seelischen Kraft, die sich - wie die positive und neg<strong>at</strong>ive elektrische Ladung -<br />

in gegensätzlicher Form in der Erfahrung manifestiert: die eine als ein<br />

p<strong>at</strong>iens, der Eros, und die andere als ein agens, der Machttrieb - und vice<br />

versa. Der Eros nimmt den Machttrieb ebenso sehr in Anspruch wie dieser<br />

den ersteren. Wo ist der eine Trieb ohne den anderen? Der Mensch unterliegt<br />

einerseits dem Triebe, andererseits versucht er, ihn zu bewältigen. Freud<br />

zeigt, wie das Objekt dem Trieb erliegt, und Adler, wie er diesen benutzt, um<br />

das Objekt zu vergewaltigen. Der seinem Schicksal ausgelieferte und erlegene<br />

Nietzsche mußte sich einen «Übermenschen» erschaffen. Freud, so schloß<br />

ich, muß so tief unter dem Eindruck der Macht des Eros stehen, daß er ihn<br />

wie ein religiöses Numen sogar zum Dogma - aere perennius - erheben will.<br />

Es ist kein Geheimnis, daß «Zar<strong>at</strong>hustra» der Verkünder eines Evangeliunis<br />

ist, und Freud konkurriert sogar mit der Kirche in seiner Absicht, Lehrsätze<br />

zu kanonisieren. Er h<strong>at</strong> dies allerdings nicht allzu laut getan, dafür aber mich<br />

der Absicht verdächtigt, als Prophet gelten zu wollen. Er erhebt den<br />

tragischen Anspruch und verwischt ihn zugleich. So verfährt man meistens<br />

mit Numinosi-täten, und das ist richtig, denn sie sind in der einen Hinsicht<br />

wahr, in der anderen unwahr. Das numinose Erlebnis erhöht und erniedrigt<br />

zugleich. Wenn Freud die psychologische Wahrheit, daß die Sexualität<br />

numinos ist - sie ist ein Gott und ein Teufel - etwas mehr berücksichtigt hätte,<br />

so wäre er nicht in der Enge eines biologischen Begriffes stecken geblieben.<br />

Und Nietzsche wäre vielleicht nicht mit seinem Überschwang über den Rand<br />

der Welt hinausgefallen, wenn er sich mehr an die Grundlagen der<br />

menschlichen Exi stenz gehalten hätte.<br />

Wo immer die Seele durch ein numinoses Erlebnis in heftige Schwingung<br />

versetzt wird, besteht die Gefahr, daß der Faden, an dem man aufgehängt ist,<br />

zerrissen wird. Dadurch fällt der eine Mensch in ein absolutes «Ja» und der<br />

andere in ein ebenso absolutes «Nein». «Nirdvandva» (frei <strong>von</strong> den Zweien)<br />

sagt der Osten. Das habe ich mir gemerkt. Das geistige Pendel schwingt<br />

zwischen Sinn und Unsinn und nicht zwischen richtig und unrichtig. Die<br />

Gefahr des Numinosen besteht darin, daß es zu Extremen verleitet, und daß<br />

dann eine bescheidene Wahrheit für die Wahrheit und ein kleiner Irrtum für<br />

eine f<strong>at</strong>ale Verirrung gehalten wird. Tout passe - was gestern Wahrheit war,<br />

ist heute eine Täuschung, und was<br />

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