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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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mir in einem großen achteckigen und gewölbten Raum in der Mitte der<br />

Zitadelle. Der Raum war ganz weiß, sehr einfach und sehr eindrucksvoll. Den<br />

Wänden aus hellem Marmor entlang standen niedere Sofas, und vor mir am<br />

Boden lag ein geöffnetes Buch mit schwarzen Lettern, die außerordentlich<br />

schön auf milchweißes Pergament geschrieben waren. Es war keine arabische<br />

Schrift, sondern sah eher aus wie uigurische, west-turkestanische Schrift, die<br />

mir aus den manichäischen Turfanfragmenten bekannt war. Ich kannte zwar<br />

den Inhalt nicht, h<strong>at</strong>te aber dennoch das Gefühl, es sei «mein Buch», das ich<br />

geschrieben h<strong>at</strong>te. Der junge Fürst, mit dem ich eben noch gerungen h<strong>at</strong>te, saß<br />

rechts <strong>von</strong> mir auf dem Boden. Ich erklärte ihm, er müsse nun, da ich ihn<br />

überwunden hätte, das Buch lesen. Aber dagegen sträubte er sich. Ich legte<br />

meinen Arm um seine Schulter und zwang ihn sozusagen mit väterlicher Güte<br />

und Geduld, das Buch zu lesen. Ich wußte, daß das unbedingt sein mußte, und<br />

schließlich gab er nach.<br />

Der Traum hinterließ mir einen tiefen Eindruck. Der arabische Jüngling ist<br />

ein Duplik<strong>at</strong> des stolzen Arabers, der grußlos an uns vorüber geritten war. Er<br />

ist als Bewohner der Kasba eine Figur des Selbst, oder besser, ein Bote oder<br />

Abgesandter des Selbst. Die Kasba nämlich, aus der er kommt, ist ein<br />

vollkommenes Mandala:<br />

die Zitadelle, umgeben <strong>von</strong> der quadr<strong>at</strong>ischen Mauer mit den vier Toren. In<br />

seiner Absicht, mich umzubringen, klingt das Motiv vom Kampfe Jakobs mit<br />

dem Engel an; er ist - um in der Sprache der Bibel zu reden - wie der Engel<br />

des Herrn, ein Gottesbote, der den Menschen töten will, weil er ihn nicht<br />

kennt.<br />

Eigentlich sollte der Engel in mir Wohnung haben. Er kennt jedoch nur die<br />

«englische» Wahrheit und versteht nichts vom Menschen. Darum tritt er<br />

zuerst als mein Feind auf, ich behaupte mich aber ihm gegenüber. Im zweiten<br />

Teil des Traumes bin ich der Herr der Zitadelle; er sitzt zu meinen Füßen und<br />

muß meine <strong>Gedanken</strong> und damit den Menschen kennenlernen.<br />

Meine Begegnung mit der arabischen Kultur h<strong>at</strong>te mich offenbar<br />

überwältigend getroffen. Das emotionale, lebensnähere Wesen dieser aus<br />

Affekten lebenden, nicht reflektierenden Menschen h<strong>at</strong> einen starken,<br />

suggestiven Effekt auf jene historischen Schichten in uns, die wir eben<br />

überwunden haben, oder wenigstens überwunden zu haben glauben. Es ist<br />

wie das Kindheitsparadies, dem man sich entronnen wähnt, das uns aber bei<br />

der leisesten Provok<strong>at</strong>ion wiederum Niederlagen beibringt. Ja, unsere<br />

Fortschrittsgläubigkeit<br />

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