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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Ich bemerkte, daß die Pueblo -Indianer, so ungern sie <strong>von</strong> etwas sprachen,<br />

das ihre Religion betraf, mit großer Bereitwilligkeit und Intensität <strong>von</strong> ihrem<br />

Verhältnis zu den Amerikanern redeten. «Warum», sagte Mountain Lake,<br />

«lassen uns die Amerikaner nicht in Ruhe ? Warum wollen sie unsere Tänze<br />

verbieten ? Warum wollen sie unseren jungen Leuten nicht erlauben, die<br />

Schule zu verlassen, wenn wir sie in die Kiwa (Kultstätte) nehmen und in der<br />

Religion unterrichten wollen ? Wir tun doch nichts gegen die Amerikaner!»<br />

Nach längerem Stillschweigen fuhr er fort: «Die Amerikaner wollen unsere<br />

Religion verbieten. Warum können sie uns nicht in Ruhe lassen ? Was wir<br />

tun, tun wir doch nicht nur für uns, sondern auch für die Amerikaner. Ja, wir<br />

tun es für die ganze Welt. Es kommt ja allen zugute.»<br />

Ich merkte an seiner Erregung, daß er offenbar auf etwas sehr Wichtiges in<br />

seiner Religion anspielte. Ich fragte ihn deshalb:<br />

«Meint ihr, daß das, was ihr in eurer Religion tut, der ganzen Welt zugute<br />

komme?» Er antwortete mit großer Lebhaftigkeit:<br />

«N<strong>at</strong>ürlich, wenn wir das nicht täten, was müßte dann aus der Welt werden?»<br />

Und mit einer andeutungsvollen Geste zeigte der Sprecher auf die Sonne.<br />

Ich fühlte, daß wir hier auf ein sehr heikles Gebiet kamen, das an die<br />

Mysterien des Stammes grenzte. «Wir sind doch ein Volk», sagte er, «das auf<br />

dem Dach der Welt wohnt, wir sind die Söhne des V<strong>at</strong>ers Sonne, und mit<br />

unserer Religion helfen wir unserem V<strong>at</strong>er täglich, über den Himmel zu<br />

gehen. Wir tun dies nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Wenn wir<br />

unsere Religion nicht mehr ausüben können, dann wird bis in zehn Jahren die<br />

Sonne nicht mehr aufgehen. Dann wird es für immer Nacht werden.»<br />

Da wurde mir deutlich, worauf die «Würde», die gelassene<br />

Selbstverständlichkeit des einzelnen Mannes, beruhte: Er ist der Sonnensohn,<br />

sein Leben ist kosmologisch sinnvoll, hilft er doch dem V<strong>at</strong>er und Erhalter<br />

allen Lebens in seinem täglichen Auf- und Abstieg. Vergleichen wir damit<br />

unsere Selbstbegründung, unseren Lebenssinn, den unsere Vernunft<br />

formuliert, so können wir nicht anders, als <strong>von</strong> seiner Armseligkeit<br />

beeindruckt sein. Aus lauter Neid schon müssen wir die indianische Naivität<br />

belächeln und uns in unserer Klugheit erhaben vorkommen, um nicht zu<br />

entdecken^ wie verarmt und heruntergekommen wir sind. Das Wissen bereichert<br />

uns nicht, sondern entfernt uns mehr und mehr <strong>von</strong> der mythischen<br />

Welt, in der wir einst heim<strong>at</strong>berechtigt waren.<br />

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