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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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im Spätherbst 1895 bettlägerig, und zu Anfang des Jahres 1896 starb er.<br />

Ich war nach dem Kolleg nach Hause gekommen und fragte nach ihm.<br />

«Ach, es ist wie immer. Er ist recht schwach», sagte die Mutter. Er flüsterte<br />

ihr etwas zu, und sie sagte, mit ihrem Blick seinen deliriösen Zustand<br />

andeutend: «Er möchte wissen, ob du dein Sta<strong>at</strong>sexamen schon bestanden<br />

hast?» Ich sah, daß ich lügen mußte: «Ja, es ist gut gegangen.» Er seufzte<br />

erleichtert und schloß die Augen. Etwas später ging ich nochmals zu ihm. Er<br />

war allein. Meine Mutter h<strong>at</strong>te im Nebenzimmer etwas zu tun. Er röchelt e,<br />

und ich sah, daß er in der Agonie war. Ich stand an seinem Bett, gebannt. Ich<br />

h<strong>at</strong>te noch nie einen Menschen sterben sehen. Plötzlich hörte er auf zu <strong>at</strong>men.<br />

Ich wartete und wartete auf den nächsten Atemzug. Er kam nicht. Jetzt<br />

erinnerte ich mich an meine Mutter und ging ins Nebenzimmer, wo sie am<br />

Fenster saß, mit Stricken beschäftigt. «Er stirbt», sagte ich. Sie kam mit mir<br />

zum Bett und sah, daß er tot war. Sie sagte, wie wundernd: «Wie schnell ist<br />

doch alles vorübergegangen.»<br />

Die nächsten Tage waren dumpf und schmerzhart, und wenig ist mir da<strong>von</strong><br />

im Gedächtnis geblieben. Einmal sprach meine Mutter in ihrer «zweiten»<br />

Stimme zu mir oder zu der mich umgebenden Luft, und sagte: «Er ist zur Zeit<br />

für dich gestorben», was mir zu bedeuten schien: Ihr habt euch nicht<br />

verstanden, und er hätte dir hinderlich werden können. - Diese Auffassung<br />

schien mir mit Nr. 2 meiner Mutter übereinzustimmen.<br />

Das «für dich» h<strong>at</strong> mich furchtbar getroffen, und ich fühlte, daß<br />

nun ein Stück alter Zeit unwiderruflich zu Ende gegangen war.Andererseits<br />

erwachte damals ein Stück Männlichkeit und Freiheit in mir. Nach dem Tode<br />

meines V<strong>at</strong>ers zog ich in sein Zimmer, und innerhalb der Familie tr<strong>at</strong> ich an<br />

seine Stelle. Ich mußte z. B. meiner Mutter wöchentlich das Haushaltsgeld<br />

geben, weil s ie nicht haushalten und nicht mit Geld umgehen konnte.<br />

Etwa sechs Wochen nach seinem Tode erschien mein V<strong>at</strong>er mir im Traum.<br />

Plötzlich stand er vor mir und sagte, er käme aus den Ferien. Er habe sich gut<br />

erholt, und nun kehre er nach Hause zurück. Ich dachte, er würde mir<br />

Vorwürfe machen, weil ich in sein Zimmer gezogen war. Aber keine Rede<br />

da<strong>von</strong>! Trotzdem schämte ich mich, weil ich mir eingebildet h<strong>at</strong>te, er sei tot. -<br />

Nach ein paar Tagen wiederholte sich der Traum, daß mein V<strong>at</strong>er als Genesener<br />

nach Hause zurückkehrte, und wieder machte ich mir Vor-<br />

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