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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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kommen und auf mich zu kriechen könnte. Vor Angst war ich wie gelähmt. In<br />

diesem unerträglichen Augenblick hörte ich plötzlich meiner Mutter Stimme<br />

wie <strong>von</strong> außen und oben, welche rief: «Ja, schau ihn dir nur an. Das ist der<br />

Menschenfresser!» Da bekam ich einen Höllenschrecken und erwachte,<br />

schwitzend vor Angst. Von da an h<strong>at</strong>te ich viele Abende lang Angst<br />

einzuschlafen, weil ich fürchtete, ich könnte wieder einen ähnlichen Traum<br />

haben.<br />

Dieser Traum h<strong>at</strong> mich Jahre hindurch beschäftigt. Erst sehr viel später<br />

entdeckte ich, daß das merkwürdige Gebilde ein Phallus war, und erst nach<br />

Jahrzehnten, daß es ein ritueller Phallus war. Ich konnte nie ausmachen, ob<br />

meine Mutter meinte «Das ist der Menschenfresser», oder «Das ist der<br />

Menschenfresser». In ersterem Fall hätte sie gemeint, daß nicht «Jesus» oder<br />

der «Jesuit» der Kinderfresser sei, sondern der Phallus; in letzterem, daß der<br />

Menschenfresser im allgemeinen durch den Phallus dargestellt sei, also daß<br />

der dunkle «her Jesus», der Jesuit und der Phallus identisch seien.<br />

Die abstrakte Bedeutung des Phallus ist dadurch gekennzeichnet, daß das<br />

Glied für sich ithyphallisch (=aufrecht) inthronisiert ist. Das Loch in der<br />

Wiese stellte wohl ein Grab dar. Das Grab selber ist ein unterirdischer<br />

Tempel, dessen grüner Vorhang an die Wiese erinnert, hier also das<br />

Geheimnis der mit grüner Veget<strong>at</strong>ion bedeckten Erde darstellt. Der Teppich<br />

war blutrot. Woher das Gewölbe? Bin ich damals schon auf dem Munot, dem<br />

Bergfried <strong>von</strong> Schaffhausen, gewesen? Nicht wahrscheinlich, man würde ein<br />

dreijähriges Kind kaum dorthin führen. Also kann es sich nicht um einen<br />

Erinnerungsrest handeln. Ebenso ist die Quelle für den an<strong>at</strong>omisch richtigen<br />

Ithyphallus unbekannt. Deutung des orificium ure thrae als Auge, und darüber<br />

anscheinend eine Lichtquelle, weist auf die Etymologie des Phallus hin ( =<br />

leuchtend, glänzend) 1 .<br />

Der Phallus dieses Traumes scheint auf alle Fälle ein unterirdischer und<br />

nicht zu erwähnender Gott zu sein. Als solcher ist er mir durch meine ganze<br />

Jugend geblieben und h<strong>at</strong> jeweils angeklungen, wenn vom Herrn Jesus<br />

Christus etwas zu emph<strong>at</strong>isch die Rede war. Der «her Jesus» ist mir nie ganz<br />

wirklich, nie ganz akzeptabel, nie ganz liebenswert geworden, denn immer<br />

wieder dachte ich an seinen unterirdischen Gegenspieler als an eine <strong>von</strong> mir<br />

nicht gesuchte, schreckliche Offenbarung.<br />

2 Ges. Werke V, 1973, pag. 279 f. 19

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