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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Der Großteil meiner P<strong>at</strong>ienten bestand nicht aus gläubigen Menschen,<br />

sondern aus solchen, die ihren Glauben verloren h<strong>at</strong>ten. Zu mir kamen die<br />

«verlorenen Schafe». Der gläubige Mensch h<strong>at</strong> auch heute Gelegenheit, in der<br />

Kirche die Symbole zu leben. Man denke an das Erlebnis der Messe, der<br />

Taufe, an die Imit<strong>at</strong>io Christi und vieles andere. Aber ein solches Leben und<br />

Erleben des Symbols setzt die lebendige Anteilnahme des Gläubigen voraus,<br />

und die fehlt dem heutigen Menschen sehr oft. Beim neurotischen Menschen<br />

fehlt sie meistens. In solchen Fällen sind wir darauf angewiesen zu<br />

beobachten, ob nicht das Unbewußte spontan Symbole heraufbringt, welche<br />

das Fehlende ersetzen. Dann bleibt aber immer noch die Frage offen, ob ein<br />

Mensch, der entsprechende <strong>Träume</strong> oder Visionen h<strong>at</strong>, imstande sei, ihren<br />

Sinn zu verstehen und die Konsequenzen auf sich zu nehmen.<br />

Ich habe einen solchen Fall in «Über die Archetypen des kollektiven<br />

Unbewußten» 4 beschrieben. Ein Theologe h<strong>at</strong>te einen Traum, der sich öfters<br />

wiederholte. Er träumt, er stehe an einem Abhang, <strong>von</strong> wo aus er eine schöne<br />

Aussicht auf ein tiefes Tal mit dichten Wäldern h<strong>at</strong>. Er weiß, daß ihn bisher<br />

immer etwas da<strong>von</strong> abgehalten h<strong>at</strong>te, dorthin zu gehen. Dieses Mal aber will<br />

er seinen Plan durchführen. Wie er sich dem See nähert, wird es unheimlich,<br />

und plötzlich huscht ein leiser Windstoß über die Fläche des Wassers, das<br />

sich dunkel kräuselt. Er erwacht mit einem Angstschrei.<br />

Der Traum erscheint zunächst unverständlich; aber als Theologe hätte sich<br />

der <strong>Träume</strong>r eigentlich an den «Teich» erinnern sollen, dessen Wasser <strong>von</strong><br />

einem plötzlichen Wind bewegt wurde, und in den man die Kranken tauchte -<br />

den Teich Bethesda. Ein Engel kommt hernieder und berührt das Wasser,<br />

welches dadurch Heilkraft erlangt. Der leise Wind ist das Pneuma, das weht,<br />

wo es will. Und das macht dem <strong>Träume</strong>r Höllenangst. Es wird eine unsichtbare<br />

Präsenz angedeutet, ein Numen, das aus sich lebt, und vor welchem den<br />

Menschen ein Schauer überfällt. Den Einfall vom Teich Bethesda gab der<br />

<strong>Träume</strong>r sich nur unwillig zu. Er wollte ihn nicht haben, denn dergleichen<br />

Dinge kommen nur in der Bibel und allenfalls noch am Sonntagvormittag m<br />

der Predigt vor. Mit Psychologie haben sie gar nichts zu tun. Vom Hl. Geist<br />

vollends spricht man nur bei feierlichen Gelegenheiten, aber er ist beileibe<br />

kein Phänomen der Erfahrung.<br />

4 «Über die Archetypen des kollektiven Unbewußten», 1935, in Ges. Werke IX/1,<br />

1976.<br />

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