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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Sittlichkeit gelehrt. Ich kannte mich selber gut genug, um zu wis sen, daß ich<br />

mich sozusagen nur graduell <strong>von</strong> einem Tier unterschied.<br />

Schopenhauers düsteres Gemälde der Welt fand meinen ungeteilten<br />

Beifall, nicht aber seine Problemlösung. Es war mir sicher, daß er mit seinem<br />

«Willen» eigentlich Gott, den Schöpfer, meinte und diesen als «blind»<br />

bezeichnete. Da ich aus Erfahrung wußte, daß Gott durch keine Blasphemie<br />

gekränkt wurde, sondern sie im Gegenteil sogar fordern konnte, um nicht nur<br />

die helle und positive Seite des Menschen, sondern auch dessen Dunkelheit<br />

und Widergöttlichkeit zu haben, so verursachte mir Schopenhauers<br />

Auffassung keine Beschwerden. Ich hielt sie für ein durch die T<strong>at</strong>sachen<br />

gerechtfertigtes Urteil. Umso mehr aber enttäuschte mich sein Gedanke, daß<br />

der Intellekt dem blinden Willen nur dessen Bild entgegenhalten müsse, um<br />

diesen zur Umkehr zu veranlassen. Wie konnte der Wille überhaupt dies Bild<br />

sehen, da er ja blind war? Und warum sollte er, auch wenn er es sehen<br />

könnte, dadurch bewogen werden, umzukehren, da das Bild ihm gerade das<br />

zeigen würde, was er ja wollte? Und was war der Intellekt? Er ist Funktion<br />

der menschlichen Seele, kein Spiegel, sondern ein infinites!-males<br />

Spiegelchen, das ein Kind der Sonne entgegenhält und erwartet, daß sie<br />

da<strong>von</strong> geblendet würde. Das erschien mir als völlig inadaequ<strong>at</strong>. Es war mir<br />

rätselhaft, wie Schopenhauer auf eine derartige Idee verfallen konnte.<br />

Das veranlaßte mich, ihn noch gründlicher zu studieren, wobei ich in<br />

zunehmendem Maße <strong>von</strong> seiner Beziehung zu Kant beeindruckt wurde. Ich<br />

begann daher, die Werke dieses Philosophen, vor allem die «Kritik der reinen<br />

Vernunft» mit vielem Kopfzerbrechen zu lesen. Meine Bemühungen lohnten<br />

sich, denn ich glaubte den Grundfehler in Schopenhauers System entdeckt zu<br />

haben: er h<strong>at</strong>te die Todsünde begangen, eine metaphysische Aussage zu<br />

machen, nämlich ein bloßes nooumenon, ein «Ding an sich» zu hypostasieren<br />

und zu qualifizieren. Dies ergab sich aus Kants Erkenntnistheorie, welche für<br />

mich eine womöglich noch größere Erleuchtung als Schopenhauers<br />

«pessimistisches» Weltbild bedeutete.<br />

Diese philosophische Entwicklung erstreckte sich <strong>von</strong> meinem siebzehnten<br />

Lebensjahr bis weit in die Jahre meines Medizinstudiums hinein. Sie h<strong>at</strong>te<br />

eine umwälzende Änderung meiner Einstellung zu Welt und Leben im<br />

Gefolge. War ich früher scheu, angst-<br />

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