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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Gottes, mit spärlichstem Lichte ausgerüstet, das die Finsternis, in der sie<br />

tappen, nicht erhellen kann. So viel stand für mich fest, und ebenso sicher war<br />

mir, daß keiner der mir bekannten Theologen «das Licht, das in die Finsternis<br />

schien», mit eigenen Augen gesehen h<strong>at</strong>te, sonst hätten sie keine<br />

«theologische Religion» lehren können. Mit der «theologischen Religion»<br />

konnte ich nichts anfangen; denn sie entsprach nicht meinem Gotteserlebnis.<br />

Ohne Hoffnung auf Wissen forderte sie auf zu glauben. Das h<strong>at</strong>te mein V<strong>at</strong>er<br />

mit größter Anstrengung versucht und war daran gescheitert. Ebenso wenig<br />

konnte sich mein V<strong>at</strong>er gegen den lächerlichen M<strong>at</strong>erialismus der Psychi<strong>at</strong>er<br />

verteidigen. Das war ja auch so etwas, das man glauben mußte, genau wie die<br />

Theologie! Ich war sicherer denn je, daß beiden sowohl Erkenntniskritik wie<br />

Erfahrung fehlte.<br />

Mein V<strong>at</strong>er stand offenbar unter dem Eindruck, die Psychi<strong>at</strong>er hätten im<br />

Gehirn etwas entdeckt, was bewies, daß an der Stelle, wo der Geist sein sollte,<br />

«m<strong>at</strong>eria» vorhanden war und nichts «Luftartiges». Damit stimmten<br />

verschiedene Mahnungen meines V<strong>at</strong>ers überein, ich solle, wenn ich Medizin<br />

studiere, ja kein M<strong>at</strong>erialist werden. Für mich bedeutete aber seine Mahnung,<br />

ich solle ja nichts glauben, denn ich wußte, daß die M<strong>at</strong>erialisten, genau wie<br />

die Theologen, an ihre Definitionen glaubten, und ich wußte auch, daß mein<br />

armer V<strong>at</strong>er einfach vom Regen in die Traufe gekommen war. Ich h<strong>at</strong>te<br />

erkannt, daß der mir immer hochgepriesene Glaube ihm diesen f<strong>at</strong>alen Streich<br />

gespielt h<strong>at</strong>te und nicht nur ihm, sondern den meisten gebildeten und<br />

ernsthaften Leuten, die ich kannte. Als die Erzsünde des Glaubens erschien<br />

mir die T<strong>at</strong>sache, daß er der Erfahrung Vorgriff. Woher wußten die<br />

Theologen, daß Gott absichtlich gewisse Dinge arrangiert h<strong>at</strong>te und gewisse<br />

andere «zuließ», und woher die Psychi<strong>at</strong>er, daß die M<strong>at</strong>erie die Eigenschaften<br />

des menschlichen Geistes besaß? Ich stand in keinerlei Gefahr, dem<br />

M<strong>at</strong>erialismus zu verfallen, wohl aber mein V<strong>at</strong>er, was mir immer deutlicher<br />

wurde. Offenbar h<strong>at</strong>te ihm jemand etwas <strong>von</strong> der «Suggestion» zugeraunt,<br />

denn er las damals, wie ich entdeckte, Bernheims Buch über Suggestion,<br />

übersetzt <strong>von</strong> Sigmund Freud 1 . Das war mir neu und bedeutsam, denn bisher<br />

h<strong>at</strong>te ich meinen V<strong>at</strong>er nur Romane oder etwa eine Reisebeschreibung lesen<br />

sehen. Alle «gescheiten»<br />

* «Die Suggestion und ihre Heilwirkung», Leipzig und Wien 1888.<br />

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