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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Dreißig Jahre später stand ich wieder auf jenem Abhang, war verheir<strong>at</strong>et,<br />

h<strong>at</strong>te Kinder, ein Haus, einen Pl<strong>at</strong>z in der Welt und einen Kopf voll <strong>von</strong> Ideen<br />

und Plänen, und plötzlich war ich wieder das Kind, das ein Feuer voll<br />

heimlicher Bedeutung entzündet und auf dem Stein sitzt, <strong>von</strong> dem man nicht<br />

weiß, ob er ich ist oder ich er. - Mein Leben in Zürich fiel mir plötzlich ein<br />

und erschien mir fremd, wie eine Kunde aus einer anderen Welt und Zeit. Es<br />

war verlockend und zugleich erschreckend. Die Welt meiner Kindheit, in die<br />

ich eben versunken war, war ewig, und ich war ihr entrissen und in eine<br />

weiter rollende, immer weiter sich entfernende Zeit hineingefallen. Ich mußte<br />

mich gewaltsam <strong>von</strong> diesem Ort abwenden, um meine Zukunft nicht zu<br />

verlieren.<br />

Dieser Moment ist mir unvergeßlich, denn er h<strong>at</strong> mir blitzartig den<br />

Ewigkeitscharakter meiner Kindheitszeit erleuchtet. Was mit dieser<br />

«Ewigkeit» gemeint ist, zeigte sich bald darauf in meinem zehnten<br />

Lebensjahr. Meine Entzweiung und Unsicherheit in der großen Welt führte<br />

mich zu einer mir damals unverständlichen Maßnahme : ich benutzte in jener<br />

Zeit eine gelb lackierte Federschachtel, mit einem kleinen Schloß, wie sie die<br />

Primarschüler besitzen. Darin fand sich auch ein Lineal. An dessen Ende<br />

schnitzte ich nun ein kleines, etwa sechs Zentimeter großes Männchen mit<br />

«Gehrock, Zylinder und blankgewichsten Schuhen». Ich färbte es mit Tinte<br />

schwarz, sägte es vom Lineal ab und legte es in die Federschachtel, wo ich<br />

ihm ein Bettchen bereitete. Ich machte ihm aus einem Stück Wolle sogar ein<br />

Mäntelchen. Zu ihm legte ich einen gl<strong>at</strong>ten, länglichen, schwärzlichen<br />

Rheinkiesel, den ich mit bunten Wasserfarben so bemalt h<strong>at</strong>te, daß er in einen<br />

oberen und einen unteren Teil getrennt war. Er h<strong>at</strong>te mich lange in meiner<br />

Hosentasche begleitet. Das war sein Stein. Das Ganze war für mich ein<br />

gro ßes Geheimnis, <strong>von</strong> dem ich jedoch nichts verstand. Ich brachte die<br />

Schachtel mit dem Männchen heimlich auf den oberen, verbotenen Estrich<br />

(verboten, weil die Bodenbretter wurmstichig und morsch und daher<br />

gefährlich waren) und versteckte sie auf einem Stützbalken des Dachstuhls.<br />

Dabei empfand ich große Befriedigung; denn das würde niemand sehen. Ich<br />

wußte, daß dort kein Mensch es finden könnte. Niemand konnte mein<br />

Geheimnis entdecken und zerstören. Ich fühlte mich sicher, und das quälende<br />

Gefühl der Entzweiung mit mir selber war behoben.<br />

In allen schwierigen Situ<strong>at</strong>ionen, wenn ich etwas angestellt h<strong>at</strong>te oder<br />

meine Empfindlichkeit verletzt worden war, oder wenn die<br />

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