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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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dort nicht fanden, was sie suchten. Das erstaunte mich damals sehr; denn nach<br />

hergebrachter Meinung sind es die Toten, welche das große Wissen haben.<br />

Man ist der Ansicht, sie wüßten viel mehr als wir, weil ja die christliche<br />

Lehre annimmt, daß wir «drüben» «<strong>von</strong> Angesicht zu Angesicht schauen»<br />

würden. Scheinbar «wissen» die Seelen der Verstorbenen aber nur das, was<br />

sie im Augenblick ihres Todes wußten und nichts darüber hinaus. Daher ihr<br />

Bemühen, ins Leben einzudringen, um teilzunehmen am Wissen der<br />

Menschen. Oft habe ich das Gefühl, als stünden sie direkt hinter uns und<br />

warteten darauf, zu vernehmen, welche Antwort wir ihnen und welche wir<br />

dem Schicksal geben. Es scheint mir, als ob ihnen alles darauf ankäme, <strong>von</strong><br />

den Lebenden, d. h. <strong>von</strong> denen, die sie überleben und in einer sich weiter<br />

verändernden Welt existieren, Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Die<br />

Toten fragen, wie wenn das Allwissen oder Allgewußtsein nicht ihnen zur<br />

Verfügung stünde, sondern nur in die körperverhaftete Seele des Lebenden<br />

einfließen könnte. Der Geist des Lebenden scheint daher wenigstens in einem<br />

Punkte gegenüber dem der Toten im Vorteil zu sein, nämlich in der Fähigkeit,<br />

klare und entscheidende Erkenntnisse zu erlangen. Die dreidimensionale Welt<br />

in Zeit und Raum erscheint mir wie ein Koordin<strong>at</strong>ensystem: es wird in<br />

Ordin<strong>at</strong>e und Abszisse auseinandergelegt, was «dort», in der Raum-<br />

Zeitlosigkeit, vielleicht als ein Urbild mit vielen Aspekten, vielleicht als eine<br />

diffuse «Erkenntnis wolke» um einen Archetypus herum, erscheinen mag. Es<br />

bedarf aber eines Koordin<strong>at</strong>ensystems, um Unterscheidung <strong>von</strong> distinkten In -<br />

halten zu ermöglichen. Eine derartige Oper<strong>at</strong>ion erscheint uns undenkbar im<br />

Zustand eines diffusen Allwissens oder eines subjektlosen Bewußtseins ohne<br />

zeiträumliche Bestimmung. Erkenntnis setzt, wie Zeugung, einen Gegens<strong>at</strong>z<br />

voraus, ein Hier und Dort, ein Oben und Unten, ein Vorher und Nachher.<br />

Wenn es ein bewußtes Dasein nach dem Tode geben sollte, so ginge es, wie<br />

mir scheint, in der Richtung weiter wie das Bewußtsein der Menschheit, das<br />

jeweils eine obere, aber verschiebbare Grenze h<strong>at</strong>. Es gibt viele Menschen,<br />

die im Augenblick ihres Todes nicht nur hinter ihren eigenen Möglichkeiten<br />

zurückgeblieben sind, sondern vor allem auch weit hinter dem, was schon zu<br />

ihren Lebzeiten <strong>von</strong> anderen Menschen bewußt gemacht worden war. Daher<br />

ihr Anspruch, im Tode den Anteil an Bewußtheit zu erlangen, den sie im<br />

Leben nicht erworben haben.<br />

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