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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Damals wiederholte sich eine erschreckende Phantasie: Es war etwas Totes<br />

da, das noch lebte. Z. B. wurden Leichen in Verbrennungsöfen getan, und<br />

dann zeigte es sich, daß noch Leben in ihnen war. Diese Phantasien gipfelten<br />

und lösten sich zugleich in einem Traum:<br />

Ich war in einer Gegend, die mich an die Alyscamps bei Aries erinnerte.<br />

Dort befindet sich eine Allee <strong>von</strong> Sarkophagen, die bis auf die<br />

Merowingerzeit zurückgehen. Im Traum kam ich <strong>von</strong> der Stadt her und sah<br />

vor mir eine ähnliche Allee mit einer langen Reihe <strong>von</strong> Gräbern. Es waren<br />

Postamente mit Steinpl<strong>at</strong>ten, auf denen die Toten aufgebahrt waren. Dort<br />

lagen sie in ihren altertümlichen Kleidern und mit gefalteten Händen wie in<br />

alten Grabkapellen die Ritter in ihren Rüstungen, nur mit dem Unterschied,<br />

daß die Toten in meinem Traum nicht in Stein gehauen, sondern auf eine<br />

merkwürdige Weise mumifiziert waren. Vor dem ersten Grab blieb ich stehen<br />

und betrachtete den Toten. Es war ein Mann aus den dreißiger Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts. Interessiert schaute ich mir seine Kleider an. Plötzlich bewegte<br />

er sich und wurde lebendig. Er nahm die Hände auseinander, und ich wußte,<br />

daß das nur geschah, weil ich ihn anschaute. Mit einem unangenehmen<br />

Gefühl ging ich weiter und kam zu einem anderen Toten, der in das 18. Jahrhundert<br />

gehörte. Da geschah das gleiche: als ich ihn anschaute, wurde er<br />

lebendig und bewegte die Hände. So ging ich die ganze Reihe entlang, bis ich<br />

sozusagen in das 12. Jahrhundert kam, zu einem Kreuzfahrer im<br />

Kettenpanzer, der ebenfalls mit gefalteten Händen dalag. Seine Gestalt schien<br />

wie aus Holz geschnitzt. Lange schaute ich ihn an, überzeugt, daß er wirklich<br />

tot sei. Aber plötzlich sah ich, daß sich ein Finger der linken Hand leise zu regen<br />

begann.<br />

Der Traum beschäftigte mich lange Zeit. N<strong>at</strong>ürlich h<strong>at</strong>te ich ursprünglich<br />

Freuds Ansicht geteilt, daß sich im Unbewußten Relikte alter Erfahrungen<br />

befänden. <strong>Träume</strong> wie dieser und das wirkliche Erleben des Unbewußten<br />

führten mich zu der Einsicht, daß diese Relikte jedoch keine abgelebten<br />

Formen sind, sondern zur lebendigen Psyche gehören. Meine späteren<br />

Forschungen bestätigten diese Annahme, und im Laufe der Jahre entwickelte<br />

sich daraus die Archetypenlehre.<br />

Die <strong>Träume</strong> beeindruckten mich, konnten mir aber über das Gefühl der<br />

Desorientiertheit nicht hinweghelfen. Im Gegenteil, ich lebte wie unter einem<br />

inneren Druck. Zeitweise war er so stark, daß<br />

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