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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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geistigen Weltordnung herausreißen und zur Blasphemie verdammen kann.<br />

Ich habe keine Möglichkeit, es ihnen zu erklären. Ich muß also dieses Odium<br />

auf mich nehmen und es ertragen lernen. -Das war mir allerdings bis jetzt nur<br />

schlecht gelungen.<br />

Diese Zuspitzung des moralischen Konfliktes in mir brachte es mit sich,<br />

daß mir Nr. 2 zunehmend zweifelhafter und unangenehmer wurde, eine<br />

T<strong>at</strong>sache, die ich mir nicht mehr länger verheimlichen konnte. Ich versuchte,<br />

die Persönlichkeit Nr. 2 auszulöschen, aber es wollte mir nicht gelingen. Ich<br />

konnte sie zwar in der Schule und in der Gegenwart meiner Kameraden<br />

vergessen, auch entschwand sie mir beim Studium der N<strong>at</strong>urwissenschaften,<br />

aber sobald ich allein zu Hause oder in der N<strong>at</strong>ur war, kamen Schopenhauer<br />

und Kant wieder mächtig zurück und mit ihnen die große «Gotteswelt».<br />

Meine n<strong>at</strong>urwissenschaftlichen Kenntnisse waren auch darin enthalten und<br />

erfüllten das große Gemälde mit Farben und Gestalten. Nr. l aber und seine<br />

Bekümmernisse um die Berufswahl sanken als eine kleine Episode in den<br />

neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts unter den Horizont. Wenn ich <strong>von</strong><br />

meinem Ausflug in die Jahrhunderte wieder zurückkam, so geschah dies mit<br />

einer Art K<strong>at</strong>zenjammer. Ich, d. h. Nr. l, lebte jetzt und hier und h<strong>at</strong>te sich<br />

über kurz oder lang eine definitive Vorstellung da<strong>von</strong> zu machen, welchen<br />

Beruf er ergreifen wollte.<br />

Mein V<strong>at</strong>er sprach mehrere Male ernstlich mit mir: ich könne irgendein<br />

Studium wählen, aber, wenn es auf seinen R<strong>at</strong> ankäme, dann lieber nicht<br />

Theologie. «Du kannst alles werden, nur kein Theologe!» Es bestand damals<br />

bereits etwas wie eine stillschweigende Übereinkunft zwischen uns, daß<br />

gewisse Dinge kommentarlos gesagt und getan werden konnten. Er h<strong>at</strong>te<br />

mich z. B. nie darüber zur Rede gestellt, warum ich die Kirche so oft wie<br />

möglich schwänzte und nie mehr am Abendmahl teilnahm. Es wurde mir<br />

leichter, je ferner ich der Kirche rückte. Was ich vermißte, war einzig die<br />

Orgel und der Choral, keineswegs aber die «kirchliche Gemeinschaft».<br />

Darunter konnte ich mir überhaupt nichts vorstellen; denn die Leute, die aus<br />

Gewohnheit regelmäßig in die Kirche gingen, schienen mir untereinander<br />

noch weniger «Gemeinschaft» zu haben als die «Weltlichen». Diese letzteren<br />

waren allerdings weniger tugendhaft, dafür aber viel nettere Leute mit<br />

n<strong>at</strong>ürlichen Gefühlen, umgänglicher und fröhlicher, wärmer und herzlicher.<br />

Ich konnte meinen V<strong>at</strong>er beruhigen, daß es mich keinesfalls gelüstete,<br />

Theologe zu werden. Ich schwankte unentschieden zwi-<br />

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