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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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etwas öfter zu Bette lag, war mir nicht aufgefallen. Ich hielt dies sowieso für<br />

eine unentschuldbare Schwäche. Mein V<strong>at</strong>er brachte mich ans Bett der<br />

Mutter, und sie hielt ein kleines Wesen in den Armen, das äußerst<br />

enttäuschend aussah: ein rotes, verschrumpftes Gesicht, wie ein alter Mensch,<br />

die Augen geschlossen, wahrscheinlich blind wie junge Hunde. Das Ding<br />

h<strong>at</strong>te am Rücken einzelne lange rotblonde Haare, die man mir zeigte - hätte<br />

das ein Affe werden sollen ? Ich war schockiert und wußte nicht, wie mir<br />

zumute war. Sahen Neugeborene so aus? Man munkelte etwas vom Storch,<br />

der das Kind gebracht haben sollte. Wie war es aber dann bei einem Wurf <strong>von</strong><br />

Hunden und K<strong>at</strong>zen? Wie viele Male mußte da der Storch hin - und herfliegen,<br />

bis der Wurf vollständig war ? Und wie war es bei den Kühen ? Ich konnte<br />

mir nicht vorstellen, wie der Storch ein ganzes Kalb im Schnabel tragen<br />

konnte. Auch sagten die Bauern einem, die Kuh habe gekalbert und nicht, der<br />

Storch habe das Kalb gebracht. Diese Geschichte war offenbar wieder einer<br />

jener Tricks, die mir angegeben wurden. Ich war sicher, daß meine Mutter da<br />

wieder etwas angestellt h<strong>at</strong>te, was ich nicht wis sen sollte.<br />

Dieses plötzliche Erscheinen meiner Schwester hinterließ mir ein vages<br />

Gefühl <strong>von</strong> Mißtrauen, das meine Neugier und Beobachtung zuspitzten.<br />

Spätere verdächtige Reaktionen meiner Mutter bestätigten meine<br />

Vermutungen: irgend etwas Bedauerliches war mit dieser Geburt verknüpft.<br />

Im übrigen h<strong>at</strong> mich dieses Ereignis nicht weiter angefochten, wohl aber trug<br />

es bei zu der Verschärfung eines Erlebnisses, das in meinem zwölften Jahr<br />

st<strong>at</strong>tfand.<br />

Meine Mutter h<strong>at</strong>te die unangenehme Gewohnheit, mir alle möglichen<br />

guten Mahnungen nachzurufen, - wenn ich zu Besuch oder zu einer<br />

Einladung ging. Ich h<strong>at</strong>te dann nicht nur meine besseren Kleider an und<br />

gewichste Schuhe, sondern auch ein Gefühl der Dignität meines Vorhabens<br />

und öffentlichen Auftretens und empfand es als Erniedrigung, daß die Leute<br />

auf der Straße es hören sollten, was für ehrenrührige Dinge meine Mutter mir<br />

nachzurufen h<strong>at</strong>te: «Vergiß auch nicht, eine Empfehlung <strong>von</strong> Papa und Mama<br />

auszurichten und deine Nase zu putzen - hast du ein Nastuch ? Und die Hände<br />

gewaschen ?» usw. Ich fand es durchaus unangebracht, meine die Infl<strong>at</strong>ion<br />

begleitenden Minderwertigkeitsgefühle dermaßen der Welt preiszugeben, wo<br />

ich doch schon aus Eigenliebe und Eitelkeit längst dafür gesorgt h<strong>at</strong>te,<br />

möglichst tadellos in Erscheinung zu treten. Diese Gelegenheiten bedeuteten<br />

mir<br />

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