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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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Wie stand es mit der Therapie? Bisher h<strong>at</strong>te sie wegen ihrer Schlaflosigkeit<br />

Narkotika erhalten, und da Selbstmordverdacht vorlag, wurde sie überwacht.<br />

Aber sonst war nichts unternommen worden. Physisch ging es ihr gut.<br />

Ich sah mich nun vor das Problem gestellt: soll ich offen mit ihr reden oder<br />

nicht? Soll ich die große Oper<strong>at</strong>ion vornehmen? Das bedeutete für mich eine<br />

schwere Gewissensfrage, eine Pflichtenkol-lision sondergleichen. Aber ich<br />

mußte den Konflikt allein mit mir ausfechten; denn hätte ich meine Kollegen<br />

gefragt, so hätten sie mich wohl gewarnt: «Sagen Sie der Frau um<br />

Gotteswillen nicht solche Sachen. Sie werden sie nur noch verrückter<br />

machen.» Nach meiner Auffassung konnte aber die Wirkung auch umgekehrt<br />

sein. In der Psychologie gibt es ohnehin kaum eine eindeutige Wahrheit Eine<br />

Frage kann so oder anders beantwortet werden, je nachdem, ob man die<br />

unbewußten Faktoren mitberücksichtigt oder nicht. N<strong>at</strong>ürlich war mir auch<br />

bewußt, was ich für mich riskierte: wenn die P<strong>at</strong>ientin in des Teufels Küche<br />

kam, dann auch ich!<br />

Trotzdem beschloß ich, eine. Therapie zu wagen, deren Ausgangspunkt<br />

sehr unsicher war. Ich sagte ihr alles, was ich durch das<br />

Assozi<strong>at</strong>ionsexperiment entdeckt h<strong>at</strong>te. Sie können sich denken, wie<br />

schwierig das war. Es ist nichts Geringes, jemandem einen Mord auf den<br />

Kopf zuzusagen. Und es war tragisch für die P<strong>at</strong>ientin, es zu hören und<br />

anzunehmen. Aber der Effekt war, daß sie vierzehn Tage später entlassen<br />

werden konnte und nie wieder in eine Anstalt kam.<br />

Noch andere Gründe h<strong>at</strong>ten mich veranlaßt, vor meinen Kollegen zu<br />

schweigen: ich fürchtete, daß sie über den Fall diskutieren und womöglich<br />

irgendwelche legalen Fragen aufwerfen würden. Man konnte der P<strong>at</strong>ientin<br />

zwar nichts nachweisen, und doch hätte eine solche Diskussion k<strong>at</strong>astrophale<br />

Folgen für sie haben können. Es schien mir sinnvoller, daß sie ins Leben<br />

zurückkehrte, um im Leben ihre Schuld zu sühnen. Sie war vom Schicksal<br />

gestraft genug. Als sie entlassen wurde, ging sie mit einer schweren Last <strong>von</strong><br />

dan-nen. Die mußte sie tragen. Ihre Buße h<strong>at</strong>te schon mit der Depression und<br />

der Internierung in der Anstalt begonnen, und der Verlust des Kindes war ihr<br />

ein tiefer Schmerz.<br />

In vielen psychi<strong>at</strong>rischen Fällen h<strong>at</strong> der P<strong>at</strong>ient eine Geschichte, die nicht<br />

erzählt wird, und um die in der Regel niemand weiß. Für mich beginnt die<br />

eigentliche Therapie erst nach der Erforschung dieser persönlichen<br />

Geschichte. Sie ist das Geheimnis des P<strong>at</strong>ienten,<br />

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