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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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insistierte deshalb auf dem blinden Glauben, den er erkämpfen mußte und mit<br />

krampfhafter Anstrengung erzwingen wollte. Darum konnte er ihn nicht als<br />

Gnade empfangen.<br />

Mein Onkel und meine Vettern konnten mit aller Ruhe über dogm<strong>at</strong>ische<br />

Lehrmeinungen <strong>von</strong> den Kirchenvätern bis zur neuesten Theologie<br />

diskutieren. Sie schienen wohl begründet in der Sicherheit einer<br />

selbstverständlichen Weltordnung. Doch kam darin der Name Nietzsche<br />

überhaupt nicht vor, und der Name Jakob Burckhardt wurde nur mit<br />

widerwilliger Anerkennung geäußert. Burckhardt wurde «liberal», «etwas zu<br />

freisinnig» genannt, und damit deutete man an, daß er irgendwie schief zu der<br />

ewigen Ordnung der Dinge stand. Mein Onkel war, wie ich wußte,<br />

ahnungslos, wie fern ich der Theologie stand, und ich bedauerte es sehr, daß<br />

ich ihn enttäuschen mußte. Ich hätte es damals aber nie gewagt, mit meinen<br />

Problemen herauszurücken, denn ich wußte zu genau, welch unabsehbare<br />

K<strong>at</strong>astrophe für mich daraus hervorgehen würde. Ich h<strong>at</strong>te ja nichts in den<br />

Händen, womit ich mich hätte verteidigen können. Im Gegenteil, die<br />

Persönlichkeit Nr. l war entschieden im Vordringen, mit meinen allerdings<br />

noch spärlichen n<strong>at</strong>urwissenschaftlichen Kenntnissen, die völlig vom damaligen<br />

Wissenschaftsm<strong>at</strong>erialismus durchtränkt waren. Nur mühsam wurde sie<br />

in Schach gehalten durch das Zeugnis der Geschichte und durch die «Kritik<br />

der Reinen Vernunft», die anscheinend niemand in meiner Umgebung<br />

verstand. Zwar wurde Kant <strong>von</strong> meinen Theologen in lobendem Ton erwähnt.<br />

Seine Grundsätze wurden jedoch nur auf den gegnerischen Standpunkt<br />

angewandt, nicht aber auf den eigenen. Auch dazu sagte ich nichts.<br />

Infolgedessen wurde es mir immer ungemütlicher, wenn ich mich mit<br />

meinem Onkel und seiner Familie zu Tisch setzte. Für mein habituell<br />

schlechtes Gewissen wurden die Donnerstage zu schwarzen Tagen. In dieser<br />

Welt sozialer und spiritueller Sicherheit und Gelassenheit fühlte ich mich<br />

immer weniger Zuhause, obschon ich nach den Tropfen geistiger Anregung<br />

dürstete, die dort gelegentlich fielen. Ich kam mir unehrlich und verworfen<br />

vor. Ich mußte mir gestehen: Ja, du bist ein Betrüger, du lügst und täuschest<br />

die Menschen, die dir doch wohlwollen. Sie können ja nichts dafür, daß sie in<br />

einer Welt der sozialen und geistigen Sicherheit wohnen, daß sie nichts<br />

wissen <strong>von</strong> Armut, daß ihre Religion auch zugleich ihr bezahlter Beruf ist und<br />

daß sie sich offenbar keine <strong>Gedanken</strong> darüber machen, wie Gott selber einen<br />

Menschen aus seiner eigenen<br />

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