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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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gang - ich immer ein Stück hinter ihr - und rief: «Abscheulige Bueb, tue<br />

d'Auge zue, abscheulige Bueb, tue d'Auge zue!» Erst in dem Augenblick<br />

bemerkte ich, daß die Gestalten nackt waren und Feigenblätter trugen! Das<br />

h<strong>at</strong>te ich vorher gar nicht gesehen. So verlief mein erster Zusammenstoß mit<br />

der schönen Kunst. Meine Tante war in heller Entrüstung, wie wenn sie durch<br />

ein pornographisches Institut hindurchgeschleust worden wäre.<br />

Als ich sechs Jahre alt war, machten meine Eltern mit mir einen Ausflug<br />

nach Ariesheim. Bei dieser Gelegenheit trug meine Mutter ein Kleid, das mir<br />

unvergeßlich geblieben ist und zugleich das einzige darstellt, das ich an ihr<br />

erinnere: es war ein schwarzer Stoff, bedruckt mit kleinen grünen<br />

Halbmonden. In diesem frühesten Erinnerungsbild erscheint meine Mutter als<br />

eine schlanke junge Frau. In meinen anderen <strong>Erinnerungen</strong> ist sie stets älter<br />

und korpulent.<br />

Wir kamen zu einer Kirche, und meine Mutter sagte: «Das ist eine<br />

k<strong>at</strong>holische Kirche.» - Meine Neugier, untermischt mit Angst, ließ mich der<br />

Mutter entlaufen, um durch die offene Tür ins Innere zu blicken. Ich sah<br />

gerade noch die großen Kerzen auf einem reichgeschmückten Altar (es war<br />

um die Osterzeit), als ich plötzlich über eine Stufe stolperte und mit dem Kinn<br />

auf ein Scharreisen aufschlug. Ich weiß nur, daß mich meine Eltern mit einer<br />

stark blutenden Wunde auflasen. Ich war in einem merkwürdigen Gemütszustand.<br />

Einerseits schämte ich mich, daß ich infolge meines Geschreis<br />

die Aufmerksamkeit der Kirchgänger auf mich gezogen h<strong>at</strong>te, andererseits<br />

h<strong>at</strong>te ich das Gefühl, etwas Verbotenes angestellt zu haben: Jesuiten - grüner<br />

Vorhang - Geheimnis des Menschenfressers . .. Das ist also die k<strong>at</strong>holische<br />

Kirche, die mit Jesuiten zu tun h<strong>at</strong>. Die sind schuld daran, daß ich gestolpert<br />

bin und geschrien habe! -<br />

Jahrelang konnte ich keine k<strong>at</strong>holische Kirche mehr betreten ohne geheime<br />

Angst vor Blut, Hinfallen und Jesuiten. Das war der Ton oder die<br />

Atmosphäre, <strong>von</strong> der sie umwittert war. Aber immer h<strong>at</strong> sie mich fasziniert.<br />

Die Nähe eines k<strong>at</strong>holischen Priesters war womöglich noch unbehaglicher.<br />

Erst in meinen Dreißigerjahren, als ich den Stephansdom in Wien betr<strong>at</strong>,<br />

konnte ich die M<strong>at</strong>er Ecciesia ohne Beschwernis fühlen.<br />

Mit sechs Jahren begannen meine L<strong>at</strong>einstunden, die mir mein V<strong>at</strong>er<br />

erteilte. Ich ging nicht ungern zur Schule. Sie fiel mir leicht, da ich den<br />

ändern immer voraus war. Ich konnte auch schon lesen,<br />

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