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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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lektuell. Es ist sinnvoller, die Gestalten zunächst einmal als das zu belassen,<br />

was sie mir damals erschienen, nämlich als Verdeutlichungen unbewußter<br />

Hintergrundsvorgänge.<br />

Bald nach dieser Phantasie tauchte eine andere Gestalt aus dem<br />

Unbewußten auf. Sie h<strong>at</strong>te sich aus der Figur des Ellas entwickelt. Ich nannte<br />

sie Philemon. Philemon war ein Heide und brachte eine ägyptischhellenistische<br />

Stimmung mit einer gnostischen Färbung herauf. Seine Gestalt<br />

erschien mir zuerst in einem Traum:<br />

Es war blauer Himmel, aber er schien wie das Meer. Er war bedeckt - nicht<br />

<strong>von</strong> Wolken, sondern <strong>von</strong> braunen Erdschollen. Es sah aus, als ob die<br />

Schollen auseinanderbrächen und das blaue Wasser des Meeres dazwischen<br />

sichtbar würde. Das Wasser war aber der blaue Himmel. Plötzlich schwebte<br />

<strong>von</strong> rechts her ein geflügeltes Wesen herbei. Es war ein alter Mann mit<br />

Stierhörnern. Er trug einen Bund mit vier Schlüsseln und hielt den einen so,<br />

wie wenn er im Begriff stünde, ein Schloß aufzuschließen. Er war geflügelt,<br />

und seine Flügel waren wie diejenigen des Eisvogels mit ihren charakteristischen<br />

Farben.<br />

Da ich das Traumbild nicht verstand, malte ich es, um es mir besser zu<br />

veranschaulichen. In den Tagen, als ich damit beschäftigt war, fand ich am<br />

Seeufer meines Gartens einen toten Eisvogel! Ich war wie vom Donner<br />

gerührt! Nur ganz selten sieht man Eisvögel in der Umgebung <strong>von</strong> Zürich.<br />

Darum war ich <strong>von</strong> diesem anscheinend zufälligen Zusammentreffen so<br />

betroffen. Die Leiche war noch frisch, höchstens zwei bis drei Tage alt, und<br />

wies keine äußeren Verletzungen auf.<br />

Philemon und andere Phantasiegestalten brachten mir die entscheidende<br />

Erkenntnis, daß es Dinge in der Seele gibt, die nicht ich mache, sondern die<br />

sich selber machen und ihr eigenes Leben haben. Philemon stellte eine Kraft<br />

dar, die ich nicht war. Ich führte Phantasiegespräche mit ihm, und er sprach<br />

Dinge aus, die ich nicht bewußt gedacht h<strong>at</strong>te. Ich nahm genau wahr, daß er<br />

es war, der redete und nicht ich. Er erklärte mir, daß ich mit den <strong>Gedanken</strong> so<br />

umginge, als hätte ich sie selbst erzeugt, während sie nach seiner Ansicht<br />

eigenes Leben besäßen wie Tiere im Walde, oder Menschen in einem<br />

Zimmer, oder wie Vögel in der Luft: «Wenn du Menschen in einem Zimmer<br />

siehst, würdest du auch nicht sagen, du hättest sie gemacht, oder du seist für<br />

sie verantwortlich», belehrte er mich. So brachte er mir allmählich die<br />

psychische Objektivität, die «Wirklichkeit der Seele» bei.<br />

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