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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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«Uns nun ließ in die Segel des schwarz geschnäbelten Schiffes Fahrwind,<br />

schwellenden Hauches, nachwehn als guten Begleiter, Kirke, die<br />

schöngelockte, die hehre melodische Göttin.^<br />

Doch unruhevoll dämmerten mir hinter den leuchtenden homerischen<br />

Bildern <strong>Gedanken</strong> der Zukunft, <strong>von</strong> der größeren Fahrt über den pelagus<br />

mundi, die uns noch bevorstand. Oeri, der bis her gezaudert h<strong>at</strong>te, heir<strong>at</strong>ete<br />

nicht lange danach, und mir bescherte das Schicksal, wie dem Odysseus, eine<br />

Nekyia, den Abstieg in den finsteren Hades 2 . Dann kamen die Kriegsjahre,<br />

und wiederum sah ich ihn nur selten. Auch die großen Gespräche verstummten.<br />

Man sprach eigentlich nur noch <strong>von</strong> Vordergründigem. Aber ein<br />

inneres Gespräch hob zwischen uns an, wie ich aus gewis sen vereinzelten<br />

Fragen, die er mir stellte, err<strong>at</strong>en konnte. Er war ein kluger Freund und wußte<br />

um mich in seiner Art. Dieses stillschweigende Einverständnis und seine<br />

unwandelbare Treue bedeuteten mir sehr viel. Im letzten Jahrzehnt seines<br />

Lebens sahen wir uns öfters wieder, weil wir beide wußten, daß die Sch<strong>at</strong>ten<br />

länger wurden.<br />

In bezug auf die religiösen Fragen empfing ich während meiner<br />

Studentenzeit viele Anregungen. Zu Hause bot sich mir die hochwillkommene<br />

Gelegenheit, mich mit einem Theologen, dem Vikar meines<br />

verstorbenen V<strong>at</strong>ers, zu unterhalten. Er zeichnete sich nicht nur durch seinen<br />

phänomenalen Appetit aus, der mich in den Sch<strong>at</strong>ten stellte, sondern auch<br />

durch große Gelehrsamkeit. Von ihm lernte ich vieles aus der P<strong>at</strong>ristik, der<br />

Dogmengeschichte, und insbesondere vernahm ich eine Menge Neues über<br />

die protestantische Theologie. Die Ritschlsche Theologie war damals an der<br />

Tagesordnung. Ihre historische Auffassung und vor allem das Gleichnis vom<br />

Eisenbahnzug irritierten mich s . Auch die Theologiestudenten, mit denen ich<br />

im Zofinger Verein diskutierte, schienen sich alle<br />

1 Nekyia <strong>von</strong> NEXUZ; (Leichnam) ist der Titel des 11. Gesanges der «Odyssee». Es<br />

bedeutet das Totenopfer zur Heraufbeschwörung der Abgeschiedenen aus dem Hades.<br />

Nekyia ist daher eine passende Bezeichnung für einen Abstieg in das Totenland, wie<br />

zum Beispiel in der «Divina Commedia» oder in der «klassischen Walpurgisnacht» im<br />

Faust. <strong>Jung</strong> braucht es hier im übertragenen Sinne und spielt auf seinen «Abstieg» in<br />

die Bilderwelt des Unbewußten an, <strong>von</strong> dem im Kapitel «Die Auseinandersetzung mit<br />

dem Unbewußten» die Rede sein wird. A. J.<br />

s R. braucht das Gleichnis <strong>von</strong> einem Eisenbahnzug, der rangiert wird;<br />

hinten stößt die Lokomotive an, und dieser Ruck setzt sich durch den ganzen Zug fort:<br />

so gehe der Anstoß Christi durch die Jahrhunderte. A. J.<br />

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