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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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mir manche Anregungen. Seinen Begriff der «Imagin<strong>at</strong>ion crea-trice», der<br />

mich besonders interessierte, übernahm ich <strong>von</strong> ihm.<br />

Ich habe viel <strong>von</strong> ihm gelernt. Vor allem die Art und Weise, einen P<strong>at</strong>ienten<br />

zu betrachten, die liebevolle Vertiefung in dessen Geschichte. Darum griff ich<br />

auch einen Fall <strong>von</strong> ihm auf, nämlich den der Miss Miller. In «Wandlungen<br />

und Symbole der Libido» (1912) unterzog ich ihn einer sorgfältigen Analyse.<br />

Schon lange h<strong>at</strong>te ich mich für die Zusammenhänge der Phantasieprodukte<br />

Schizophrener interessiert, und Flournoy half mir, sie noch besser zu<br />

verstehen. Er sah die Probleme im Ganzen, und vor allem sah er sie objektiv.<br />

Ihm waren die Fakten wichtig, das was vorgeht. Vorsichtig näherte er sich<br />

einem Fall an und verlor nie das Ganze aus dem Auge. Mein entscheidender<br />

Eindruck <strong>von</strong> der wissenschaftlichen Einstellung Flournoys war der, daß er<br />

einen wirklich objektiven «approach» h<strong>at</strong>te, und das war mir im Vergleich zu<br />

Freud sehr eindrücklich. Freud h<strong>at</strong>te eine dynamische und penetrierende Art:<br />

er erwartete etwas <strong>von</strong> seinen Fällen. Flournoy wollte nichts. Er sah <strong>von</strong> ferne<br />

und sah klar. Durch den Einfluß <strong>von</strong> Freud habe ich Wissen erworben, wurde<br />

aber nicht geklärt. Flournoy h<strong>at</strong> mich die Distanz vom Objekt gelehrt und das<br />

Bestreben nach Einordnung in einen weiten Horizont in mir unterstützt und<br />

wachgehalten. Seine Art war mehr beschreibend, ohne sich auf Vermutungen<br />

einzulassen, und trotz eines lebendigen und warmen Interesses für den<br />

P<strong>at</strong>ienten hielt er sich immer in betrachtender Entfernung. So behielt er aber<br />

das Ganze im Auge.<br />

Flournoy war eine kultivierte und distinguierte Persönlichkeit, sehr fein<br />

gebildet, geistig ausgleichend und mit einem differenzierten Gefühl für<br />

Proportionen. Das alles war mir sehr wohltuend. Er war Professor der<br />

Philosophie und Psychologie. Er war stark vom Jamesschen Pragm<strong>at</strong>ismus<br />

beeinflußt, einer Auffassungsweise, die dem deutschen Geist nicht liegt und<br />

dementsprechend <strong>von</strong> diesem nicht die Anerkennung erfuhr, die sie verdient<br />

hätte. Der Pragm<strong>at</strong>is mus ist aber gerade für die Psychologie <strong>von</strong> nicht<br />

geringer Bedeutung. Was ich an Flournoy besonders schätzte, war seine<br />

philosophische Betrachtungsweise und vor allem seine wohlüberlegte Kritik,<br />

die auf umfassender Bildung beruhte.<br />

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