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Erinnerungen, Träume, Gedanken von C.G. Jung - Mahs.at

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guter Schutz gegen den eisigen Wind, hier aber gegen die strahlende Hitze.<br />

Von Nairobi aus besuchten wir mit einem kleinen Fordwagen die Athi<br />

Plains, ein großes Wildreserv<strong>at</strong>. Auf einem niedrigen Hügel in dieser weiten<br />

Savanne erwartete uns eine Aussicht sondergleichen. Bis an den fernsten<br />

Horizont sahen wir riesige Tierherden: Gazellen, Antilopen, Gnus, Zebras,<br />

Warzenschweine usw. Langsam strömend, grasend, die Köpfe nickend<br />

bewegten sich die Herden - kaum daß man den melancholischen Laut eines<br />

Raubvogels vernahm. Es war die Stille des ewigen Anfangs, die Welt, wie sie<br />

immer schon gewesen, im Zustand des Nicht-Seins; denn bis vor kurzem war<br />

niemand vorhanden, der wußte, daß es «diese Welt» war. Ich entfernte mich<br />

<strong>von</strong> meinen Begleitern, bis ich sie nicht mehr sah und das Gefühl h<strong>at</strong>te, allein<br />

zu sein. Da war ich nun der erste Mensch, der erkannte, daß dies die Welt<br />

war und sie durch sein Wissen in diesem Augenblick erst wirklich erschaffen<br />

h<strong>at</strong>te.<br />

Hier wurde mir die kosmische Bedeutung des Bewußtseins überwältigend<br />

klar. «Quod n<strong>at</strong>ura relinquit imperfectum, ars perficit» (was die N<strong>at</strong>ur<br />

unvollständig läßt, vervollständigt die Kunst), heißt es in der Alchemie. Der<br />

Mensch, ich, gab der Welt in unsichtbarem Schöpferakt erst die Vollendung,<br />

das objektive Sein. Man h<strong>at</strong> diesen Akt dem Schöpfer allein zugeschrieben<br />

und nicht bedacht, daß wir damit Leben und Sein als eine auskalkulierte<br />

Maschine ansehen, die sinnlos, mitsamt der menschlichen Psyche, nach<br />

vorbekannten und -bestimmten Regeln weiterläuft. In einer solchen trostlosen<br />

Uhrwerkphantasie gibt es kein Drama <strong>von</strong> Mensch, Welt und Gott; keinen<br />

«neuen Tag», der zu «neuen Ufern» führt, sondern nur die öde errechneter<br />

Abläufe. Mein alter Pueblo -Freund kam mir in den Sinn: er glaubte, daß die<br />

rai-son d'etre seiner Pueblos die Aufgabe sei, ihrem V<strong>at</strong>er, der Sonne, täglich<br />

über den Himmel zu helfen. Ich h<strong>at</strong>te sie um dieser Sinn-erfülltheit willen<br />

beneidet und mich ohne Hoffnung nach unserem eigenen Mythus<br />

umgeschaut. Jetzt wußte ich ihn und dazu noch mehr: der Mensch ist<br />

unerläßlich zur Vollendung der Schöpfung, ja er ist der zweite Weltschöpfer<br />

selber, welcher der Welt erst das objektive Sein gibt, ohne das sie ungehört,<br />

ungesehen, lautlos fressend, gebärend, sterbend, köpfenickend durch<br />

Hunderte <strong>von</strong> Jahr-mjllionen in der tiefsten Nacht des Nicht-Seins zu einem<br />

unbe-stimmten Ende hin ablaufen würde. Menschliches Bewußtsein<br />

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