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kennt die Wörter, aber meist kennt er sie eben nur in<br />
ihrer manifesten Bedeutung: so, wie sie im Duden stehen.<br />
Die latente Zweitbedeutung wird nur demjenigen<br />
bewußt, der den Code der Sexualsprache erfaßt hat und<br />
sie gewohnheitsmäßig dechiffriert. 5<br />
Was wir im Text an Wörtern finden, sind keine<br />
Neuprägungen (Neologismen), sondern Neudeutungen.<br />
Mit dem sexuellen Vokabular der<br />
Umgangssprache will Borneman einen Einblick<br />
geben „in den Denkprozeß des unbekannten<br />
Sprachschöpfers.“ 6 In seinem Buch kommt er zu<br />
einer These, die zwischen den Zeilen steht: daß<br />
sich im Vokabular, in der Syntax und in der<br />
Grammatik des Verbotenen ein sprachschöpferischer<br />
Prozeß erhalten hat, der uns im Schriftdeutschen<br />
verlorengegangen ist, und daß die<br />
Sprachlogik der sexuellen Unterwelt die einzige<br />
Therapie darstellt, die unserem senilen Hochdeutsch<br />
helfen kann, die Virilität des Mittelhochdeutschen<br />
wiederzufinden. 7<br />
Das Märchen »Der Zaunkönig« beginnt mit<br />
dem Satz: „In den alten Zeiten, da hatte jeder<br />
Klang noch Sinn und Bedeutung.“ Und beim<br />
Erzählvorgang assoziierten sich die Wortklänge<br />
zu einem Hintersinn, den wahrscheinlich nicht<br />
die Kinder, aber die Erwachsenen verstanden.<br />
Heute muß der Philologe der Deutung nachhelfen.<br />
Da fast alle Wörter mehr als eine einzige<br />
Bedeutung besitzen, kann es nicht überraschen,<br />
daß sie auch in der »Nachtsprache« mehrdeutig<br />
sind. Wir können also nicht mit Dekodierungsgleichungen<br />
arbeiten, die sich stimmig durch alle<br />
Texte ziehen, sondern müssen immer auf der Hut<br />
sein, ob nicht an bestimmter Textstelle eine<br />
Bedeutungsvariante auftaucht. Besonders lange<br />
braucht der Bildungsbürger, bis er versteckte<br />
Bedeutungen aus dem Analbereich entdeckt. Mir<br />
selber fiel es erst in »Hänsel und Gretel« wie<br />
Schuppen von den Augen, als auf dem normalen<br />
wG-Gelände kein Platz mehr war für den Backofen<br />
der Hexe. So verlieren auch die geheimnisvollen<br />
Hinweise auf die Bedeutung des Reims<br />
(z.B. bei Rühmkorf) ihren beunruhigenden Stachel,<br />
und der Reim wird als Verschlüsselungsmethode<br />
erkannt. Ohne Borneman hätten wir solche<br />
Deutungen nicht gewagt. Wenn er recht hat, dann<br />
haben wir noch viele übersehen:<br />
146<br />
Nach mehr als einem Jahrzehnt der Arbeit an diesem<br />
Lexikon neige ich zu der Ansicht, daß das sexuelle Denken<br />
des deutschen Volkes in höherem Maße anal orientiert<br />
ist als das irgendeines unserer Nachbarvölker.<br />
Jedenfalls herrscht in der sprachlichen Sensitivität derjenigen<br />
deutschen Volksschichten, die den größten Teil<br />
des vorliegenden Materials geprägt haben, nicht nur ein<br />
ausgesprochener Pansexualismus, der alle Objekte, Personen<br />
und Vorgänge des Alltagslebens sexualisiert, sondern<br />
auch eine Art Analfetischismus, der solche Dinge,<br />
Personen und Vorgänge weitgehend analisiert.“ 8<br />
In den analysierten Texten kennzeichnet ein<br />
Sternchen (*) solche Überlegungen, die noch<br />
nicht zur anerkannten Sprachwissenschaft gehören.<br />
bedeutet: oben im doppelten Weltbild;<br />
und bedeutet: unten im doppelten Weltbild. Es<br />
folgen hier zunächst 25 strukturierte Märchentexte<br />
mit Kommentaren zur Dekodierung. Wo<br />
immer das möglich war, sollte durch vorsichtige<br />
Kürzung Platz gespart werden. Das war aber<br />
nicht oft der Fall, weil der <strong>Inhalt</strong> beibehalten und<br />
der Hintersinn in der Sprachform nicht zerstört<br />
werden sollte. Das Ende bildet eine Sammlung<br />
von impuristischen Motiven aus weiteren 38<br />
Märchen, von denen einige auch neue geographische<br />
Einzelheiten des doppelten Weltbildes<br />
liefern.<br />
1. Das tapfere Schneiderlein<br />
[Vorbemerkungen]<br />
[Nur wenige der Grimmschen Märchen<br />
machen den Eindruck von Fabeln, Schwänken<br />
oder Legenden. Nirgends brauchen wir die üblichen<br />
Plätze für Gott-Vater oder Sohn der theologischen<br />
Literatur (CoU & PVC). In einigen<br />
legendenartigen Texten erscheint Gott-Vater oder<br />
Petrus auf Erden und prüft die Menschen, aber in<br />
anderer Gestalt. Die Plätze CoU & PVC sind frei,<br />
vor allem für jeden König und seine Frau, aber<br />
auch für jeden Handwerksmeister und seine Frau.<br />
Wie schon berichtet, sind beide iwG beweglich<br />
zu denken, manchmal sogar außerhalb dieses<br />
Raumes. — Der Schneider in diesem Märchen<br />
nimmt nacheinander diese vier Rollen an: CoU,<br />
Cl, Per und wieder CoU.]<br />
Text, Struktur und Kommentar<br />
(Vorspiel: Der Schneider in der Werkstatt.)<br />
An einem Sommermorgen () saß ein Schneiderlein<br />
(CoU) auf seinem Tisch (unter Fu gibt es<br />
eine Ebene wie eine Tischplatte) am Fenster (Inf<br />
singularisiert) und nähte (mit der Cl-Nadel) aus<br />
Leibeskräften. (Auf der Farbtafel 16.5 sieht man<br />
ganz oben den CoU-Schneider im Schneidersitz,<br />
mit untergeschlagenen Beinen und Ovv als<br />
ausgestellten Knien, auf dem grünen Tisch mit