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Inhalt Band II - Edocs

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im Gedicht nur Sinnlosigkeit oder Widersinn<br />

erzeugt, wie es manchmal oberflächlich tatsächlich<br />

den Anschein hat. In der Tiefe aber wird die<br />

alte Welt aus Schöpfungstagen wiederhergestellt:<br />

„Das höchste Streben der Poesie ist, in der<br />

Sprache die Welt in ihrer ursprünglichen und<br />

glückstrahlenden Reinheit neu zu erschaffen.“ 50<br />

Warum aber dann so im Verborgenen? Weil<br />

nur in alter Zeit mit natürlicher und „glückstrahlender<br />

Reinheit“ von Sexualität die Rede sein<br />

konnte. „Das dichterische Sagen sagt das Unsagbare.“<br />

51 Dieses Wortspiel verbirgt die Tatsache,<br />

daß in der Sprache nichts unsagbar oder unerklärlich<br />

ist. Das »Unsagbare« ist nur ein Tabu in unserer<br />

feinen Gesellschaft, wenn sie die reine Sexualität<br />

der Natur auf die Ebene der Kunst und<br />

Kultur erhebt. Wer das Thema »Form und Funktion<br />

der Genitalien« mit der Sprache als Werkzeug<br />

„sagt“, produziert heutzutage notwendig<br />

Pornographie im Stile von Karol Kroepcke (s.o.).<br />

Der Dichter aber behandelt das Thema mit dem<br />

verborgenen Sinn der Wörter, die sich in der jeweiligen<br />

Konfiguration gegenseitig entblößen<br />

und dann nackt erscheinen wie in uralter Zeit, als<br />

Sprache und Zeichen (später auch Schrift) magische<br />

Elemente waren, Beschwörungszauber:<br />

„Poesie entsteht, wenn es irgendeinem Menschen gelingt,<br />

seine eigene Zeit geistig zu bewältigen … Dann<br />

überfliegt man in einem Schrei alle Epochen bis zum uralten<br />

Ursprung der menschlichen Stimme und überwindet<br />

in der Erleuchtung eines Augenblicks die ganze Geschichte.<br />

52<br />

Deshalb geht es in der Poesie nicht um einen<br />

transportierten Textinhalt, sondern nur um die<br />

Qualität der Wortmontage, um „Stimmigkeit und<br />

Konsistenz der sprachlichen Strukturierung.“ 53<br />

Hinter der systematischen Anarchie stehen textbindende<br />

Mittel als Gesetzmäßigkeiten bisher<br />

unbekannter Art. Normale Interpreten haben z.B.<br />

bei Rimbaud versucht, „eine Relation zwischen<br />

einzelnen Wörtern und Sätzen und einem gemeinten<br />

Objekt“ 54 herzustellen. Das ist in der Literaturwissenschaft<br />

die richtige Methode der Deutung,<br />

führt aber hier zu keinem Erfolg, solange<br />

man nicht an die richtigen Objekte (die OG)<br />

denkt. Dann erklärt man fälschlich etwa Willkürliches<br />

oder das inkohärente Chaos zum Thema.<br />

Das Thema ist aber nicht unauffindbar verborgen<br />

in den Wörtern, sondern durchaus genital-real<br />

vorhanden, denn die Sexualität existiert in der<br />

Sprache, seit der Urmensch Cunnus und Kosmos<br />

mit Sprache erfaßte. Dies ist demnach der eine<br />

und wiederkehrende Sinn der Wörter und macht<br />

alles Geschriebene zu Schweinerei (in letzter<br />

Konsequenz auch alles Gesprochene). Die<br />

Gesellschaft hat sich Institutionen geschaffen, die<br />

die Poesie tarnen, entschärfen, kommensurabel<br />

machen sollen.<br />

Was sie [die Gesellschaft] unverständlich schimpft, ist<br />

letzten Endes das Selbstverständliche, von dem alle<br />

großen Werke sprechen und das vergessen sein, vergessen<br />

bleiben soll, weil es von der Gesellschaft nicht geduldet,<br />

nicht eingelöst wird. 55<br />

Das Selbstverständliche ging im Volksgebrauch<br />

der Sprache verloren. Baudelaire formulierte:<br />

„Wahr ist, daß die große Überlieferung verlorenging.“<br />

56 Natürlich ließ er unklar, was er inhaltlich<br />

meinte. In einer Phase des Surrealismus kommt<br />

André Breton zu einer Revolution des Wortes, die<br />

1945 im »Lettrismus« endete: „Worum handelte<br />

es sich denn? Um nichts weniger als darum, das<br />

Geheimnis einer Sprache wiederzufinden, deren<br />

Elemente aufhören würden, sich wie die Trümmer<br />

auf der Oberfläche eines toten Meeres zu<br />

verhalten.“ 57 „Der Name wird von seinem Führer<br />

so ausgelegt, daß das Wort von jedem extrapoetischen<br />

Wert gereinigt werden muß, und die in<br />

Freiheit gesetzten Buchstaben eine musikalische<br />

Einheit bilden sollen.“ 58<br />

Wie über den »Sinn« streitet man sich auch<br />

über den »Gegenstand« der Dichtung. Wer sich in<br />

der »reinen Dichtung« als Konstrukteur reiner<br />

Sprachgebilde versteht (Benn: „Ein Gedicht entsteht<br />

überhaupt sehr selten — ein Gedicht wird<br />

gemacht“ 59 ), versteigt sich leicht zu der Behauptung,<br />

seine Dichtung habe gar keinen Gegenstand,<br />

sondern nur eine artistische Form. Enzensberger<br />

rechnet in diesem Punkt mit Benn ab, denn<br />

jeder Sprecher brauche Gegenstände. „Von einer<br />

Kunst um der Kunst willen will Enzensberger<br />

nichts wissen.“ 60 Er widerlegt den Hauptsatz der<br />

modernen Poetik: „Der Dichter hat keinen Gegenstand<br />

(Reverdy)“ 61 und beurteilt den Zwist<br />

von Form und <strong>Inhalt</strong> als ein Scheinproblem, mit<br />

dem die Vertreter der schlechten Avantgarde<br />

„kaschieren möchten, daß sie nichts zu sagen<br />

haben.“ 62 Statt dieser „These von der Leere des<br />

modernen Gedichts“ 63 verkündet er: „… auch die<br />

moderne, wie jede Poesie, spricht von etwas,<br />

spricht aus, was uns betrifft.“ 64 HME nimmt Stellung<br />

zu Benns Forderung, das künstlerische Material<br />

müsse kalt gehalten werden:<br />

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