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Engagement in der Literatur unmöglich ist. „Die<br />
Grundvoraussetzung für das Engagement ist die<br />
Anerkennung eines bestimmten, noch nicht verwirklichten<br />
Weltbildes … Das Weltbild dessen,<br />
der sich engagiert, ist ein utopisches, ist das Bild<br />
von einer künftigen Welt.“ 24 „Der sich Engagierende<br />
beschäftigt sich mit Wertsystemen, mit<br />
Ideologien, die er falsch nennt und durch seine<br />
Ideologie ersetzen möchte, die er richtig nennt.“ 25<br />
Er handelt zweckbewußt, zielbestimmt, eindeutig<br />
und politisch. Handke folgert:<br />
Littérature engagée können demnach nur reine Manifeste,<br />
Theorien, Programme, Aufrufe sein. Littérature engagée<br />
muß ohne Fiktion, ohne Geschichte (story), ohne<br />
Verkleidung, ohne Parabolik, ohne bestehende literarische<br />
Form auskommen: sie darf überhaupt keine literarische<br />
Form haben, sie muß vollkommen unliterarisch<br />
sein, wie Sartre sagt, geschriebenes Sprechen. Also ist<br />
eine »engagierte Literatur« keine Literatur. 26<br />
„Eine engagierte Literatur gibt es nicht. Der Begriff<br />
ist ein Widerspruch in sich.“ 27 Sie ist verlängertes<br />
Sprechen oder schriftgewordenes Sprechen.<br />
Und diese Einsicht gilt auch allgemein:<br />
„Wer könnte überhaupt ein Werk einer engagierten<br />
Kunst nennen?“ 28 Besonders verdächtig ist<br />
ein Zweck: „Das Engagement zielt zweckbetont<br />
auf die Veränderung der gesellschaftlichen Wirklichkeit,<br />
während ein Zweck für die Kunst ein<br />
Unding wäre.“ 29 Und andersherum kommt Handke<br />
zum gleichen Ergebnis: Das Engagement verliert<br />
in der literarischen Form den Ernst der Wirklichkeit;<br />
das Wesen der Botschaft wird durch<br />
formalisiertes Sprechen verfremdet. „Es gibt engagierte<br />
Menschen, aber keine engagierten<br />
Schriftsteller.“ 30<br />
Politik und Kunst stehen im Gegensatz zueinander.<br />
Gebilde der Kunst sind nicht nützlich,<br />
sondern zweckfrei. Das Entscheidende ist nicht<br />
ihr Gehalt, sondern ihre künstlerische Gestalt<br />
(Form und Stil).<br />
Artistik ist der Versuch der Kunst, innerhalb des allgemeinen<br />
Verfalls der <strong>Inhalt</strong>e sich selber als <strong>Inhalt</strong> zu erleben<br />
und aus diesem Erlebnis einen neuen Stil zu bilden,<br />
es ist der Versuch, gegen den allgemeinen Nihilismus<br />
der Werte eine neue Transzendenz zu setzen: die Transzendenz<br />
der schöpferischen Lust. 31<br />
In diesem Sinne spricht man von »poésie pure«<br />
oder »l’art pour l’art«. Die Formel »Kunst um der<br />
Kunst willen« stammt von V. Cousin (1836) und<br />
meint die Überzeugung, daß die Kunst eigenen<br />
Gesetzen folgt. „Diese These wurde am entschiedensten<br />
zuerst von TH. GAUTHIER in der Vorrede<br />
seiner Mlle. de Maupin (1835) verfochten: ‘Es<br />
gibt nichts wirklich Schönes, als was zu nichts<br />
dient. Alles was nützlich ist, ist häßlich.’“ 32 Der<br />
Gedanke, daß Kunst nicht nach moralischen,<br />
politischen oder sonstigen zweckhaften Maßstäben<br />
beurteilt werden darf, sondern ihren unabhängigen<br />
ästhetischen Wert in sich selber habe,<br />
findet sich bei Flaubert, den Brüdern Goncourt,<br />
Leconte de Lisle, Banville; Baudelaire, Wilde,<br />
Eliot, Moravia, Benn und Handke, um nur einige<br />
zu nennen. Rühmkorf mahnt:<br />
‘Ernst ist das Leben — heiter ist die Kunst’, sagt der<br />
auch nicht gerade gnädig verschonte Schiller, eine abgrundtiefe<br />
Sequenz, die ich jedem Ich-lege-Rechnung-<br />
Literaten, jeder Ich-bringe-mich-ein-Lyrikerin ins<br />
Stammbuch wünsche. 33<br />
Auch Ionesco ist nicht engagiert: In politischen<br />
Angelegenheiten spricht er als Bürger. Robert<br />
Penn Warren urteilt 1942: „Soweit wir überhaupt<br />
Dichtung haben, ist es immer reine Dichtung.“ 34<br />
Den Begriff »poésie pure« hat Paul Valéry 1927<br />
erfunden. 35<br />
Ich sage rein in dem Sinne, wie der Physiker von reinem<br />
Wasser spricht. Ich meine, die Frage stellt sich folgendermaßen:<br />
Kann man dazu gelangen, eines jener Werke<br />
so aufzubauen, daß es rein sei von nichtpoetischen Elementen?<br />
Ich bin immer der Ansicht gewesen, … daß dies<br />
ein unerreichbares Ziel sei, daß aber die Dichtkunst stets<br />
in dem Bemühen bestehe, sich diesem rein idealen Zustand<br />
anzunähern. Letzten Endes ist das, was man ein<br />
Gedicht nennt, praktisch aus Fragmenten reiner Poesie<br />
zusammengesetzt … Der Nachteil dieses Ausdrucks<br />
»Poésie pure« ist der Umstand, daß er an eine moralische<br />
Reinheit denken läßt, von der hier nicht die Rede ist. 36<br />
Er macht selbst einen Verbesserungsvorschlag:<br />
„Statt reiner Poesie wäre es vielleicht besser zu<br />
sagen: absolute Poesie.“ 37<br />
Valéry macht den Unterschied noch deutlicher,<br />
indem er den Dichter mit dem Musiker<br />
vergleicht: Dieser ist glücklich, weil der Kosmos<br />
der Töne getrennt ist von der Welt der Geräusche.<br />
Töne sind absolutes, reines Material. Der Gegensatz<br />
zwischen Geräusch und Ton ist derselbe wie<br />
zwischen unrein und rein. Der Dichter aber findet<br />
nur das grobe Material der Umgangssprache vor<br />
(in Wörterbuch und Grammatik) und muß es<br />
ausborgen von der Stimme des Volkes und befreien<br />
von den Spuren des Gebrauchs, er muß<br />
„mit einem Material vulgärer Herkunft eine<br />
künstliche, ideale Ordnung“ 38 schaffen. Francis<br />
Ponge schildert das Dilemma der Dichter so:<br />
„Mit genau den Wörtern, die jedermann tagtäglich<br />
benutzt, … müssen wir arbeiten … wir müssen,<br />
um unsere Sensibilität gegenüber der<br />
25