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Inhalt Band II - Edocs

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der Wörter wieder zum Klingen bringt. Diese<br />

Weltsprache „zeigt seit 1945 Spuren der Erschöpfung,<br />

des Alterns … Nur als konventionelles<br />

Spiel kann sie fortgesetzt werden, als gäbe es zu<br />

ihr keine historische Differenz.“ 86 Wir stoßen<br />

hier wieder auf das Wort »Spiel« und sehen auch<br />

im Spiel die Gefahr, daß es langweilig wird,<br />

wenn in aller Welt über lange Zeit dasselbe gespielt<br />

wird. Viele hören auf zu schreiben und<br />

verstummen, bevor sie zu ihren eigenen Epigonen<br />

werden, wie z.B. Gérard de Nerval, R. D. Brinkmann,<br />

Samuel Beckett und Arthur Rimbaud.<br />

Rimbaud (1854-1891) schrieb alle seine Dichtungen<br />

in vier bis fünf Jahren (1870-74). Hans Therre<br />

vermutet, daß Rimbaud jedes weitere Schaffen<br />

als Rückschritt und Rückfall empfand und deshalb<br />

die Poesie aufgab:<br />

er war zu schnell, machte zu wenig umwege, war zu<br />

kurz=schlüssig, zu früh angekommen … es wird also<br />

davon ausgegangen, daß rimbaud auf der ebene der<br />

»écriture« das äußerste erreichte, was für einen menschen<br />

erreichbar ist. 87<br />

Aber nicht alle großen Könner ziehen sich ins<br />

Schweigen zurück. Enzensberger hält sich (1962)<br />

ein Türchen offen, um weiterhin die Möglichkeit<br />

zu haben, Lyrik in der »Weltsprache« zu schreiben:<br />

Verächtlich, nicht gescheit ist die Position derer, die der<br />

Moderne ihre Vergangenheit als Hypothek aufbürden<br />

möchten, als sei alles Große schon getan und nur noch<br />

Nachahmung, Ausbeutung, Imitation oder Kapitulation<br />

möglich. Alles ist bereits getan: Das ist die Maxime der<br />

Feigheit und der Impotenz. Die Poesie ist immer unvollendet,<br />

ein Torso, dessen fehlende Glieder in der Zukunft<br />

liegen. 88<br />

Und Ionesco bestätigt diesen Standpunkt, ohne<br />

den man nicht mehr schreiben kann: „Gerade die<br />

Tatsache, daß es keinen Fortschritt in den Künsten<br />

gibt, macht ihren Wert aus; sie ist ein Beweis<br />

für ihre geistige Echtheit und Glaubwürdigkeit<br />

sowie ein Zeichen, das unsere menschliche Identität<br />

durch die Jahrhunderte bestätigt.“ 89<br />

Natürlich denkt jeder Dichter an einen Leser,<br />

wie H.M. Enzensberger betont: „Es nützt nichts,<br />

einen Sachverhalt vorzuzeigen, wenn keiner zusieht.<br />

Wahrheit kann nur produziert werden, wo<br />

mehr als ein Mensch zugegen ist. Deswegen müssen<br />

Gedichte an jemand gerichtet, für jemand<br />

geschrieben sein.“ 90 Und so meint Jules Supervielle<br />

bedauernd: „Da ich nicht für Fachleute<br />

schreibe, die in das dichterische Geheimnis eingeweiht<br />

sind, hat es mich jedesmal bekümmert,<br />

wenn ein feinfühliger Mensch eines meiner Gedichte<br />

nicht verstanden hat.“ 91 Wie jedermann<br />

weiß, ist es nämlich durchaus schwierig, gewisse<br />

Texte zu verstehen, obwohl Unterhaltung und<br />

Vergnügen auch mit den besten Werken der<br />

Dichtung verbunden sind. Der Dichter leistet bei<br />

der Kodierung echte Arbeit: „poesie, und speziell<br />

die rimbauds, bedeutet eine maßlose anstrengung,<br />

eine harte knochen- und blutarbeit, …“ 92 Und für<br />

den Leser ist die Dekodierung kein reines Vergnügen,<br />

sagt Enzensberger:<br />

Damit das, was vorgezeigt werden soll, beachtet wird,<br />

müssen Gedichte allerdings schön sein. Es muß ein Vergnügen<br />

sein, sie zu lesen. Weil die meisten Sachverhalte,<br />

die vorzuzeigen sind, schwieriger Natur sind, muß das<br />

Vergnügen, mit dem man Gedichte liest, in aller Regel<br />

ein schwieriges Vergnügen sein. 93<br />

Doch diese Schwierigkeit ist nicht künstlich,<br />

sondern liegt in der Natur der Sache: Es geht um<br />

den alten Vorwurf der Unverständlichkeit: „Er<br />

spricht aus und kaschiert zugleich die Tatsache,<br />

daß Poesie, wie Kultur überhaupt, in der bisherigen<br />

Geschichte immer nur Sache der wenigen,<br />

der happy few, gewesen ist. Der Vorwurf, sie<br />

seien unverständlich, macht die Poeten zu Sündenböcken<br />

für die Entfremdung“ 94 , nämlich für<br />

die Entfremdung zwischen den Menschen und<br />

ihrer Sprache. Hier hätte die Germanistik schon<br />

viele Jahre ihr Arbeitsfeld sehen sollen: „Wäre<br />

die Wissenschaft von der Literatur weniger an die<br />

Grenzen der Nationalsprachen gebunden, so fände<br />

sie hier eine ideale Spielwiese für ihre Forschungen.“<br />

95 Statt dessen klagt die Germanistik<br />

seit 1967 über ihre Krise 96 und ein Vertreter<br />

(Hans Noll) über „die Misere in unserer Literatur“,<br />

über Hohlheit, Belanglosigkeit, Unverständlichkeit,<br />

Geistlosigkeit. 97 In einem langen Bericht<br />

über den Germanistentag von 1987 ist von der<br />

„Dauerkrise in der Germanistik“ die Rede: „Statt<br />

neuen Methoden nachzujagen und dadurch einem<br />

entfremdeten Umgang mit seinem Gegenstand<br />

Vorschub zu leisten, sollte das Fach seine Dignität<br />

als historische Wissenschaft wiedergewinnen.“<br />

98 Und gerade die Fachsprache in geisteswissenschaftlichen<br />

Büchern ist zum Jargon geworden,<br />

so daß sie zur Satire Anlaß gibt. 99<br />

Erstaunlich ist, mit welcher Selbstverständlichkeit<br />

die eben gehörten Stimmen über »DIE<br />

Kunst« und »DIE Poesie« sprechen, wenn sie den<br />

Impurismus meinen. In seinem Museum bestimmt<br />

Enzensberger für seine Auswahl den Begriff<br />

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