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Am Reformationstag des Jahres 1970 fand in<br />
der Stuttgarter Buchhandlung Wendelin Niedlich<br />
eine Dichterlesung statt. Ein gewisser Karol<br />
Kroepcke wollte aus seinem neuen Werk Bürgerliche<br />
Gedichte vorlesen. Außerdem war der berühmte<br />
Karl Krolow (1915-1999) angekündigt,<br />
der zu Beginn der Veranstaltung einhundert Exemplare<br />
der Gedichte signierte. Das bürgerliche<br />
Publikum bestand aus interessierten Sonntagsdichtern,<br />
Männern, Jünglingen und Kindern von<br />
zwei bis zwölf Jahren, die in Begleitung ihrer<br />
kulturbeflissenen Mütter erschienen waren, um<br />
zeitig mit den dornigen Früchten der Literatur<br />
konfrontiert zu werden. Als die Erwartung stieg,<br />
setzte sich Krolow hinters Leselämpchen und<br />
begann, aus Kroepckes Werk zu rezitieren. Die<br />
Gemeinde der versammelten Bürger lauschte dem<br />
Dichter — und war schockiert, denn was sie hörte,<br />
klang ungeheuerlich, z.B. so (Gedicht Nr.<br />
XI) 1 :<br />
Wenn sie sich auf ihn wälzt,<br />
den offenen Mund voll Speichel,<br />
und er unten bei ihr zugange ist<br />
und drin bis an die Eier<br />
und sie einreitet mit Geräusch,<br />
ein Schmatzen, der alte Fick-Lärm<br />
die gurgelnde Fotze, und<br />
sein Ritt schärfer wird und sie sich<br />
hochwirft und fallen läßt<br />
auf den arbeitenden Bullen,<br />
der ihr die Titten<br />
langzieht mit den Zähnen<br />
und Milch schluckt, —<br />
wenn alles stimmt und es<br />
überall naß ist und die Fingernägel<br />
die Luft kratzen beim Zehenkrampf —<br />
genug, genug und noch einmal<br />
die verrückten Augenblicke,<br />
wenn sein Schwanz dreißig<br />
Zentimeter erreicht und alles<br />
trifft, was er will.<br />
Auf diese Weise behandeln die 25 Artefakte<br />
des Bändchens verschiedene Aspekte des Themas<br />
Geschlechtsverkehr — klar, direkt und brutal,<br />
eben einfach bürgerlich, und den Feiertagshörern<br />
flog das unmißverständliche Vokabular um die<br />
Ohren, das zur Darstellung von Onanie, Sodomie,<br />
Exhibitionismus, Vergewaltigung und homoerotischen<br />
Exzessen gebraucht wird. Während das<br />
Publikum noch versuchte, mit der Peinlichkeit<br />
der Situation fertigzuwerden, verließ der Dichter<br />
Poetologische Überleitung<br />
Impurismus in der Literatur<br />
die Bühne. Es fällt uns nicht schwer, zu erraten,<br />
warum ein alter Barde wie Krolow eine solche<br />
Pornographie-Veranstaltung inszenierte. Aus der<br />
aggressiven Aktion spricht seine tiefe Verachtung<br />
gegenüber dem »Bürger« und seiner Bildung: So<br />
wie Kroepckes Werke müssen »Bürgerliche Gedichte«<br />
formuliert sein, damit der Bürger sie versteht.<br />
Dahinter steckt wahrscheinlich auch ein<br />
Schuß Verzweiflung des Poeten, der (wie so viele<br />
seiner Mitstreiter) erfahren muß, daß sein Lebenswerk,<br />
die sprachliche Sublimierung des alltäglich<br />
Erotischen, ohne breite Anerkennung<br />
bleibt, weil der Geist des Verstehens dem bürgerlichen<br />
Volke mehr und mehr abhanden gekommen<br />
ist. Nach Enzensberger sieht sich die Poesie<br />
vor die Wahl gestellt, „entweder auf sich selbst<br />
oder auf ihr Publikum zu verzichten. Das Ergebnis<br />
ist auf der einen Seite eine immer höher gezüchtete<br />
Poetik für ein nach Null konvergierendes<br />
Publikum, auf der anderen Seite, präzise davon<br />
abgetrennt, die ständig primitiver werdende Massenversorgung<br />
mit Poesie-Ersatz.“ 2 Auch der<br />
Romancier Vereker (vgl. Kap. 1, JAMES) stellte<br />
bedauernd fest: „Niemand sieht etwas“ 3 , obwohl<br />
seine Werke „tiefgründig wie der Ozean“ seien.<br />
Da werden selbst Rezensenten zu Ignoranten.<br />
Die Klage kann m.E. nur das fünftausend Jahre<br />
alte Geheimnis des Impurismus betreffen. Im<br />
Volk ist das alte Wissen durch nützlichere Dinge<br />
verdrängt worden, und auch im Kreise der Poeten<br />
ist es schwierig, die Spreu vom Weizen zu trennen,<br />
weil es zu viele „blinde Parteigänger“ 4 gibt.<br />
Der Kodex der modernen Poesie hat sich derart<br />
verfestigt, „daß sie geringeren Geistern erlernbar<br />
scheint.“ 5 Aber längst nicht alle, die sich Dichter<br />
nennen, sind im Besitz der alten Weisheit. Sie<br />
produzieren „kunstgewerbliche Imitation“ 6 ,<br />
nichtwissend wie die Tobenden:<br />
Sie toben drauflos wie elisabethanische Abrahams-<br />
Männer [sich verrückt stellende Wanderbettler], bis ihr<br />
Toben zu einer Berufskrankheit wird; bis der Großteil<br />
der modernen Dichtung keinen poetischen, prosaischen<br />
oder auch nur pathologischen Sinn mehr ergibt … Es ist<br />
aber nicht so, als würden die sogenannten Surrealisten,<br />
Impressionisten, Expressionisten und Neoromantiker<br />
durch vorgetäuschten Wahnsinn im Stile Gwions ein<br />
großes Geheimnis verbergen. Sie verbergen nur ihren<br />
unseligen Mangel eines Geheimnisses. Denn es gibt heute<br />
keine poetischen Geheimnisse, außer natürlich, von<br />
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