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Inhalt Band II - Edocs

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deren Verständnis gewöhnliche Menschen aufgrund ihres<br />

Mangels an poetischer Wahrnehmung ausgeschlossen<br />

sind und die sie aufgrund ihrer anti-poetischen Erziehung<br />

(außer vielleicht im wilden Wales) nicht mehr<br />

zu achten wissen. 7<br />

An anderer Stelle sagt Ranke-Graves:<br />

Tatsächlich beruht die poetische Überlieferung Europas<br />

letztlich auf magischen Prinzipien, deren Rudimente<br />

jahrhundertelang ein streng gehütetes religiöses Geheimnis<br />

bildeten, das aber zuletzt verstümmelt, entehrt<br />

und vergessen wurde. 8<br />

Wir haben seit Kapitel 1 mehrfach gehört, daß<br />

in der Sprache selbst das Geheimnis liegt, das es<br />

zu entdecken gilt. Arno Schmidt meinte: „… ein<br />

Teil der Sprache … entspricht einer Ab-<br />

Sonderung unserer Keim-Drüsen.“ 9 Und Valéry<br />

schreibt, noch erstaunlicher: „Was ich sagen will<br />

und was ich verlauten lasse, schließt nicht die<br />

Bedeutung der Wörter ein, die ich gebrauche.“ 10<br />

Ranke erläutert die Schwierigkeit:<br />

Eine weitere Komplikation war dadurch bedingt, daß die<br />

poetische Ausbildung in alter Zeit — wenn wir aufgrund<br />

des irischen »Book of Ballymote« urteilen, das einen<br />

kryptographischen Schlüssel enthält —, darin bestand,<br />

die Sprache so schwierig wie möglich zu gestalten, um<br />

das Geheimnis zu wahren. 11<br />

Der einfache Mensch (z.B. der Spielmann) kann<br />

die Mythen erzählen, ohne den Hintersinn zu<br />

verstehen, wie West darlegt:<br />

Der Mythos kann als ein Medium benutzt werden, um<br />

solides Wissen weiterzugeben, und zwar unabhängig<br />

vom Grad der Einsicht jener Menschen, welche die Geschichten,<br />

Sagen usw. jeweils erzählen. In alten Zeiten<br />

gestattete diese Sprache den Mitgliedern des archaischen<br />

»braintrust« überdies, in der Gegenwart von Laien ungestört<br />

zu »fachsimpeln«: Die Gefahr, etwas auszuplaudern,<br />

war praktisch gleich Null. 12<br />

Die Hoffnung ist gering, daß wenigstens diejenigen,<br />

die wortgewandt darüber entscheiden, was<br />

Kunst ist, im Besitz einer höheren Weisheit sind.<br />

Gisela Brackert nennt sie »Priesterkaste der Experten«<br />

oder »Priesterkaste der Kunstvermittler«<br />

13 . Rühmkorf urteilt: „… nur wird wer gar<br />

nicht weiß, was irgendwann mal Sache war, niemals<br />

erahnen, was mit Kunst noch möglich ist.“ 14<br />

Und auf einen Stich gegen die Germanistik kann<br />

er auch nicht verzichten: „… manches, was der<br />

Ahnungslosigkeit vom Dienst als absolute Unerhörtheit<br />

erscheint, hat sich in einem stillverborgenen<br />

Unschuldwinkel lange klangvoll vorgebildet.“<br />

15 Dazu muß man sich verdeutlichen, daß die<br />

Gegenstände der pornographischen Reizdichtung<br />

und der impuristischen Kunst dieselben sind,<br />

nämlich die OG in Form und Funktion. Der<br />

24<br />

Unterschied liegt in der Art der Darstellung (direkt<br />

oder sublimiert) und in der Wirkung beim<br />

Leser (körperliche oder geistige Erregung). Die<br />

Kenner klären den Leser aber nicht auf, z.B.<br />

Rimbaud: „Nun kann ich sagen, daß die Kunst<br />

ein Gedumme ist.“ 16 Baudelaire wird deutlicher:<br />

„Was ist Kunst? Prostitution.“ 17 Um das zu merken,<br />

muß man aber sehr aufmerksam sein. Ähnlich<br />

sagt auch Wilde: „Alle Kunst ist unmoralisch.“<br />

18 Und noch allgemeiner wird Artaud: „Alles<br />

Geschriebene ist Schweinerei.“ 19 Dieser Satz<br />

ist für uns keine Überraschung, sondern bestätigt<br />

die oben untersuchte Bedeutung und Herkunft der<br />

Laute und Buchstaben. Hopkins versteckt sich<br />

(mit Kepler) etwas mehr: „Dichtkunst ist Geometrie<br />

im wahrsten Sinne des Wortes“ 20 , nämlich<br />

»Erdvermessung« (GV), wie wir in Kapitel 14<br />

gesehen haben.<br />

Wir müssen den Begriff »Impurismus«, den<br />

wir hier als Bezeichnung eines Weltbildes und<br />

einer Literaturströmung verwenden, genauer erläutern,<br />

indem wir ihn gegen seine bekannten<br />

Nachbarn abgrenzen, die »littérature pure« und<br />

die »littérature engagée«. Mit diesen Begriffen<br />

sind wir bei der Beziehung zwischen Literatur<br />

und Gesellschaft, also bei der Frage, ob ein<br />

Schriftsteller sich in den Dienst einer Sache stellen<br />

darf oder muß. Wir denken an sogenannte<br />

»religiöse Dichtungen«. Auch lehrhafte, heldischvaterländische,<br />

moralisch-sittliche Werke können<br />

als Beispiel dienen. Die »engagierte Literatur« ist<br />

einer Idee verpflichtet, steht vor allem im Dienst<br />

einer politischen oder sozialen Bewegung. In<br />

seinem Essay Was ist Literatur? hat Sartre das<br />

Schlagwort geschaffen und den Prosaschreiber<br />

zum Engagement verpflichtet. In Deutschland<br />

folgte ihm Brecht, und in den ehemaligen Ostblockstaaten<br />

stand die Literatur beinah zwangsweise<br />

im Dienste des Kommunismus. Für Lenin<br />

war Literatur eine Form der Agitation, bei Majakovskij<br />

richtet sich der Wert der Dichtung nach<br />

dem »sozialen Auftrag«, und er meint: „Mit dem<br />

Märchen von der unpolitischen Kunst muß radikal<br />

aufgeräumt werden.“ 21 Johannes R. Becher<br />

formuliert: „Ich diene auch als Dichter dem Befreiungskampf<br />

des Proletariats“ 22 , und Rolf<br />

Hochhuth urteilt: „Der engagierte Künstler ist der<br />

Künstler überhaupt.“ 23 Dagegen weist Peter<br />

Handke in seinem Aufsatz Die Literatur ist<br />

romantisch (1966) überzeugend nach, daß es den<br />

engagierten Künstler gar nicht gibt und daß ein

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