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Inhalt Band II - Edocs

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Analysen<br />

Lyrik aus »Verteidigung der Wölfe«<br />

von Hans Magnus Enzensberger<br />

1957 erschien Enzensbergers erster Gedichtband:<br />

Verteidigung der Wölfe. Die 57 Texte sind<br />

in drei Gruppen gegliedert: Freundliche, Traurige<br />

und Böse Gedichte. Wenn man sie impuristisch<br />

dekodiert (wie es unten geschieht), sind die drei<br />

Adjektive zur Charakteristik thematischer Aspekte<br />

problemlos verständlich. Nichteingeweihte<br />

Rezensenten taten sich allerdings schwer, weil sie<br />

hinter den Wörtern eine Sinnebene suchten (und<br />

konstruierten), die gar nicht gemeint war. Alfred<br />

Andersch schrieb 1958 eine Rezension, in der er<br />

die Bösen Gedichte begeistert hervorhob und den<br />

Autor lobte: „… dieser eine hat geschrieben, was<br />

es in Deutschland seit Brecht nicht mehr gegeben<br />

hat: das große politische Gedicht.“ 1 Damit gab<br />

Andersch die Richtung an, in der man fortan<br />

Enzensberger verstehen wollte. Wulf Koepke<br />

(1971): „Die Kennzeichnung der »bösen gedichte«<br />

als »gesellschaftskritisch« und »politisch« ist<br />

offensichtlich gerechtfertigt.“ 2 Und noch 1977<br />

schreibt A. Zimmermann: „Die meisten Gedichte<br />

Hans Magnus Enzensbergers können, einer tradidionellen<br />

Terminologie folgend, als »politische<br />

Lyrik« bezeichnet werden.“ 3 An solch hartnäckigen<br />

Mißverständnissen hatte auch Enzensbergers<br />

eigene Stellungnahme nichts ändern können, die<br />

sich schon 1962 in »Poesie und Politik« findet,<br />

wo er über das Wesen des Gedichts schreibt:<br />

„Sein politischer Auftrag ist, sich jedem politischen<br />

Auftrag zu verweigern.“ 4 Wir haben oben<br />

(in der poetologischen Überleitung) Pablo<br />

Nerudas Wendung von der poésie impure zur<br />

poésie engagée und dazu Enzensbergers Wertung<br />

dieses künstlerischen Dramas als »Selbstverstümmelung«<br />

referiert: „Das Gedicht handhabt er<br />

[Neruda] fortan wie einen Karabiner.“ 5 HME<br />

schrieb das schon 1955 und hat für sich selbst<br />

fein säuberlich zwischen der Poesie des Künstlers<br />

und den gesellschaftskritischen Essays des<br />

Menschen getrennt.<br />

Die politische Linke der 60er-Jahre wollte das<br />

aber nicht wahrhaben und machte ihn zu ihrer<br />

Galionsfigur, bis sie sich verraten fühlte. Man<br />

beschimpfte ihn als Opportunisten, als er 1971<br />

seine Gedichte veröffentlichte, und warf ihm vor,<br />

er „habe die Revolution verraten“ 6 . Hermann<br />

Glaser schreibt 1977 einen kurzen Aufsatz: „Der<br />

erfolgreiche Sisyphos. Moral und Masche des<br />

Hans Magnus Enzensberger“. Darin stellt er fest,<br />

daß Enzensberger nicht als Politiker, sondern<br />

stets als Sprachkünstler gehandelt und „revolutionäres<br />

Bewußtsein lediglich als Popanz“ 7 benutzt<br />

hat. Und zornig formuliert er: „So wird Enzensberger<br />

nicht wegen seiner Moral, sondern wegen<br />

seiner Masche zu allen Zeiten bestens vermarktet.“<br />

8 Glaser schimpft ihn einen »linken Dandy«<br />

und glaubt »opportunistische Standpunktlosigkeit«<br />

und »undogmatisches Transzendieren« 9<br />

entdeckt zu haben. Er referiert (1977) Hans Egon<br />

Holthusen, der sich zum schärfsten Kritiker Enzensbergers<br />

entwickelt habe: „Die Gesellschaftskritik<br />

Enzensbergers wird nicht ernst genommen<br />

und im ästhetischen Werturteil herabgesetzt.“ 10<br />

Er hält den Dichter für einen Possenreißer und<br />

Scharlatan, einen Bürgerschreck, der seinen Nonkonformismus<br />

mit politischen Klischees nur gut<br />

verkaufen will. 11 Das alles klingt enttäuscht und<br />

böse, ist aber verständlich, wenn man bedenkt,<br />

daß Enzensberger die impuristische Bedeutung<br />

seiner Lyrik hinter einer Maske verstecken muß<br />

— wie viele andere auch, z.B. sagt Rühmkorf<br />

über Ringelnatz: „Der meist tief vermummt operierende<br />

Ringelnatz — der mit der Pappnase, die<br />

dem Kenner unschwer als Dämonenmaske ins<br />

Auge sticht — hat es uns übrigens längst von<br />

vergleichbaren Brettern aus vorgesungen.“ 12<br />

Rühmkorf rezensierte die Verteidigung der<br />

Wölfe (Oktober 1958 in der Zeitschrift konkret)<br />

unter dem Pseudonym Leslie Meier. Der alte<br />

Barde lobte die Wölfe und drückte sich so aus,<br />

daß der kritische Zimmermann (1977) die Rezension<br />

für eine geglückte Ausnahme hielt. 13<br />

Enzensberger benutzte die Gesellschaftskritik als<br />

Tarnung für seine impuristische Poesie, so daß<br />

harmlose Gemüter ihn irrtümlich als einen<br />

»engagierten Dichter« betrachteten. Wer aber den<br />

Poeten sucht und die Gedichte impuristisch versteht,<br />

hat kein Problem damit, daß auch politische<br />

und zeitkritische Vokabeln nur als Sprachmaterial<br />

benutzt werden, besonders in Landessprache<br />

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