Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 101
Die Erzählung Die Kränkung zeigt in diesem Sinn vorbildhaft, wie sich
das Leben in einen Text einschreibt, und wie sich in umgekehrter Richtung der
Text (hier Mansfields Schriften) in ein oder mehrere Leben einschreiben
kann. 89
Leben kann sich in die Texte einschreiben und die Texte erheben
manchmal Anspruch auf eine aktive Rolle im Leben der Menschen.
Voraussetzung für beide Bewegungen ist, die Verantwortung für die
realitätsverändernde Wirkung dieses Werdens zu übernehmen, für die
Möglichkeit, die Realität einfach umzudenken:
»Viktor erschrickt vor meiner Sehnsucht. [...] Wir sichern uns mit
gemeinsamer Lektüre ab, er hat seine Freiheit zu verlieren. [...] Er
sagt, du denkst die Wirklichkeit um.« (Die Kr., S. 105)
2.5.1. Unsichtbare Frauen – Liebessprache und Liebe zur Sprache
Die in der Kunst und Literatur erreichbare Wendung vom Persönlichen zum
Kollektiven erscheint besonders faszinierend und mehrfach erklärbar in dem
1995 im Residenz Verlag erschienenen Erzählband Unsichtbare Frauen, der
als repräsentativ für das Verfahren der Intertextualität gelten kann, indem
Evelyn Schlag die fiktionalisierte Realität ihrer Figuren mit Hinweisen auf
Dichter und Dichterinnen der Vergangenheit sowie mit Zitaten aus ihren
Werken bereichert und vervielfältigt.
In den drei Erzählungen wird das Augenmerk hauptsächlich auf das Thema
Liebe gerichtet: die Autorin führt eine poetische Untersuchung der menschlichen
Möglichkeiten aus, mithilfe der Sprache Gefühle auszudrücken,
Gemütszustände zu signalisieren, Beziehungen zu schaffen. Im Hintergrund
verbirgt sich aber das Mysterium, das Geheimnis der Liebe, etwas Rätselhaftes,
das niemand endgültig erzählen und erklären kann.
Wie die Autorin selbst erklärt hat, geht es darin um Frauen, die in den
Biografien von Männern verschwiegen werden. In seiner Rezension Von
der Liebe und vom Verschwinden hat Karl-Markus Gauß das Thema prägnant
zusammengefasst:
»Wieder geht es um Liebe, aber auch darum, wie die Frauen in der
89 In ihrem Band hat Rosemarie Lederer untersucht, »inwieweit Geschlechtspositionen
und die intersubjektiven Beziehungen zwischen diesen in der Gegenwartsliteratur
textkonstitutiven Charakter haben beziehungsweise die Texte sich ins Leben einschreiben.«
Vgl. Rosemarie Lederer (1998), S. 28.