Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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142 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Gleich am Anfang werden <strong>di</strong>e Lesenden von der Kunst der Autorin<br />
beeindruckt, <strong>di</strong>e das Groteske perfekt inszeniert, indem sie <strong>di</strong>e Figur Wilhelmine<br />
im inneren Monolog sprechen lässt. Sie erinnert sich an <strong>di</strong>e Ereignisse<br />
des Jahres 1945 „mit schmerzlicher Genauigkeit“. Wenn man uns<br />
fragen würde, welche Assoziationen <strong>di</strong>ese Angabe bei uns hervorruft,<br />
würden wir sofort an den Zweiten Weltkrieg denken, an Bilder von Tod<br />
und Zerstörung, an Trauer und Schmerz. Das ist aber sicher nicht der Fall:<br />
der zweite Satz entlarvt <strong>di</strong>e zynische Einstellung Wilhelmines, <strong>di</strong>e Vorurteile<br />
evoziert, um <strong>di</strong>e eigene Besitzgier zu rechtfertigen.<br />
»Die Kette mit der kleinen Madonna legte Wilhelm nicht ihr, sondern<br />
Berta um den Hals. Und das, obwohl Berta, und nicht sie, Wilhelmine,<br />
<strong>di</strong>e nicht mehr Jungfräuliche war, wofür Bertas Bauch ein<br />
eindeutiges In<strong>di</strong>z bildete.« (S.V., S. 5)<br />
Die „schmerzliche Genauigkeit“ bezieht sich also auf den Verlust eines<br />
Gegenstandes, den <strong>di</strong>e Frau von Anfang an heftig begehrt.<br />
In ihrer Aussage drückt sich <strong>di</strong>e Abwertung der Frau Berta als Sexualwesen<br />
aus, weil sie von ihrem Gesichtspunkt das voreheliche Keuschheitsgebot<br />
übertreten hat, was durch das Wort „In<strong>di</strong>z“ abqualifiziert wird.<br />
Das Lexem „In<strong>di</strong>z“ verweist auf einen „verdächtigen Umstand“, der im<br />
Text durch das Wort „Bauch“, ein Zeichen der Körpersprache, auftaucht.<br />
Die erste Seite des Textes verrät den Lesenden, dass Wilhelmine Berta als<br />
Sexualwesen sieht, als Verkörperung des Weiblichen, dass sie <strong>di</strong>e „verdächtige“<br />
Kraft der Fruchtbarkeit abwertet und wahrscheinlich beneidet:<br />
um <strong>di</strong>ese Einstellung des Verachtens (und der Triebe wie Neid und Eifersucht)<br />
zu äußern, rekurriert sie (bzw. <strong>di</strong>e erzählerische Instanz) auf ein<br />
Produkt der Lexikalisierung, <strong>di</strong>e ihrer Sprachgemeinschaft erschlossen ist,<br />
auf das Gebot der Jungfräulichkeit der Frau vor dem Eintritt in <strong>di</strong>e Ehe.<br />
Wer ist aber Berta, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>eses Geschenk bekommen hatte, worum sie<br />
auch so explizit beneidet wird?<br />
Berta, eine Zweiundzwanzigjährige, hat sich in den Musiklehrer und<br />
Obergefreiten Rudolf verliebt, einfach so, nur weil er Aquarelle und Walzer<br />
spielen konnte. Für Rudolf findet Wilhelmine nur Adjektive, <strong>di</strong>e sie<br />
mit negativen Konnotationen beladen hat: er ist weich, sanft, hat eine<br />
grüblerische Natur, braucht eine feste, zupackende Hand, er ist ein Träumer,<br />
ein Phantast, muss geführt werden.<br />
Die grobe Selbstsicherheit <strong>di</strong>eser Frau würde ja komisch klingen, wenn<br />
sie nicht eine tragische Realität bezeichnen würde und sogar eine böse<br />
Prophezeiung: Rudolf, der »[...] nicht einmal ein Huhn abschlachten, ge-