Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 67<br />
Beeinflussbarkeit, der Verwirrung und Desorientierung. In Wirklichkeit<br />
kämpft aber der männlichen Hysteriker um seinen eigenen Körper:<br />
»Die Hypochondrie, als <strong>di</strong>e sich <strong>di</strong>e männliche Hysterie zeigt, stellt<br />
den Versuch dar, den entschwundenen Körper wieder zu beleben,<br />
sich durch „krankhafte“ Symptome seiner Existenz zu vergewissern.«<br />
Und dazu muss der Mann sich der Frau besinnen, d. h. <strong>di</strong>e Frau-im-<br />
Mann erkennen:<br />
»Denn an sie [<strong>di</strong>e Frau] war <strong>di</strong>e Materie, der Leib delegiert worden.«<br />
49<br />
Die Erzählung Brandstetters Reise kann gerade innerhalb <strong>di</strong>eses Rahmens<br />
interpretiert werden, der das Problem der Authentizität als harmonisches<br />
Verhältnis zwischen Geist und Materie, zwischen den Gesellschaftsregeln<br />
und dem in<strong>di</strong>viduellen Streben nach Erfüllung der eigenen Wünsche bespricht.<br />
Der Protagonist, Robert Brandstetter, erlebt eine schwere existentielle<br />
Krise und ist nicht mehr imstande, den Überdruss an seinem<br />
Alltag, an der näheren Umwelt durchzustehen: nach den allgemein gültigen<br />
Regeln der Gesellschaft sollte er mit der eigenen Existenzform ganz<br />
und gar zufrieden sein. Vom Beruf ist er leitender Angestellter einer<br />
Spielwarenfabrik in Wien, seit achtzehn Jahren ist er mit Regine verheiratet,<br />
hat einen siebzehnjährigen Sohn, Martin, und zuletzt hat er sich auch<br />
ein Wochenendhaus auf dem Land gekauft. Aber in seinem Inneren fühlt<br />
er <strong>di</strong>e Sinnlosigkeit seiner Existenz, indem er erkennt, wie traurig und<br />
hoffnungslos sein Verhalten, seine Genügsamkeit eigentlich ist:<br />
»Und dann hütet <strong>di</strong>e Genügsamkeit als schlimmer, böser Mangel an<br />
Phantasie <strong>di</strong>e Türen zur Welt und kontrolliert das Aufkommen der<br />
Wünsche, hat es schon überall in der Hand.« (BR, S. 7)<br />
Die scheinbar endgültige Form, in der <strong>di</strong>e Zeit <strong>di</strong>eses Mannes vergeht,<br />
ermöglicht ihm also nicht mehr, sein Inneres frei auszudrücken. Gerade<br />
<strong>di</strong>eses Gefühl der Vollkommenheit, <strong>di</strong>e Angst vor der Verwirklichung eines<br />
Lebensprojektes, lässt ihn aber leiden: er fürchtet, nichts Neues erleben<br />
zu können, alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben, und er mahnt<br />
sich selbst:<br />
»Plötzlich spürte er es mitten im Gesicht, <strong>di</strong>eser der Welt begegnenden<br />
Fläche: du kennst dein Leben schon, da kommt nichts Neues<br />
mehr hinzu!« (BR, S. 8)<br />
49 Christina von Braun (1994), S. 332-333.