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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 113<br />

Im Alltagsleben spielt <strong>di</strong>e Sprache eine große Rolle: wir tragen <strong>di</strong>e Verantwortung<br />

für jedes Wort, das wir aussprechen, für jeden Namen, den wir<br />

nennen, für jede Bezeichnung, mit der wir jemanden oder etwas bezeichnen.<br />

Unsere Bezeichnungen, unsere sprachlichen Entscheidungen,<br />

unsere Sprechakte haben Handlungs<strong>di</strong>mensionen, deswegen wirken sie in unseren<br />

Interaktionen und können zum Beispiel anderen Leuten aus Schwierigkeiten<br />

helfen oder sie durch eine sprachlich ausgeübte personale Gewalt<br />

erdrücken.<br />

Gudrun weiß genau von <strong>di</strong>eser sprachlichen Gewalt, sie empfindet <strong>di</strong>e<br />

Verachtung des alten Mannes der eigenen Tochter gegenüber, deswegen<br />

will sie nicht, dass <strong>di</strong>eser Mann den Schreibtisch inspiziert, dass er <strong>di</strong>e<br />

Briefe liest, dass er Zugang zu der emotionellen Welt der verstorbenen<br />

Freun<strong>di</strong>n findet.<br />

Gudrun sagt dem Vater Ly<strong>di</strong>as nichts, weil sie <strong>di</strong>e Freun<strong>di</strong>n durch eine<br />

Erzählung nicht verraten darf.<br />

» ›Er hat mich gefragt, aber ich habe nichts gesagt. Ich wollte nicht,<br />

daß das überhaupt beginne – daß wir Ly<strong>di</strong>as Tod aufklärten. Ich<br />

hatte das Gefühl, Ly<strong>di</strong>a nicht verraten zu dürfen.‹ « (U.F., S. 51)<br />

Sie erzählt dem deutschen Professor, sie habe damals Briefe aus Ly<strong>di</strong>as<br />

Schublade mitgenommen. Es sind Briefe, <strong>di</strong>e scheinbar von der Frau<br />

selbst geschrieben worden sind. Für Gudrun sind <strong>di</strong>ese Briefe eine Botschaft:<br />

»Eine Botschaft. Eine verschlüsselte, aber für mich ganz klare Geschichte.«<br />

(U.F., S. 57)<br />

Aber wer hatte ein Recht auf Ly<strong>di</strong>as unausgesprochene Gedanken?<br />

Nicht der Vater und sicher nicht der Liebhaber, dem Ly<strong>di</strong>a weniger wert<br />

gewesen war – wie Gudrun behauptet – als sein aufgeräumter Schreibtisch<br />

(U.F., S. 58).<br />

Gudrun fragt sich verzweifelt, warum Ly<strong>di</strong>a nicht ihr Name eingefallen<br />

war, warum sie sich <strong>di</strong>esmal nicht an sie gewendet hat: ein Name kann im<br />

Leben positive Kräfte evozieren, <strong>di</strong>e Zuneigung oder <strong>di</strong>e Aufmerksamkeit<br />

eines Dritten erwecken. Manchmal genügt es, einen Namen, einen Satz<br />

auszusprechen oder Worte zu schreiben, um uns zu retten oder zumindest<br />

zu trösten, um uns aus schweren Verhältnissen herauszuhelfen.<br />

Zu <strong>di</strong>esem Problem der Verantwortung für <strong>di</strong>e Sprache möchte ich<br />

mich auf <strong>di</strong>e Arbeit von Ernst Leisi beziehen: »Weite Bereiche unseres<br />

Erlebens sind von der Sprache gesteuert. Wir neigen dazu, nur <strong>di</strong>ejenigen

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