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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 115<br />

Trotz oder dank der Schwächung des Seins, <strong>di</strong>eser epochalen Krise, <strong>di</strong>e<br />

sicher auch auf <strong>di</strong>e Konstitution der gegenwärtigen Literatur wirkt, bleibt<br />

<strong>di</strong>e Notwen<strong>di</strong>gkeit, das fast existentielle Erfordernis, in der Wirklichkeit<br />

Grundlinien wiederzufinden, Perspektiven zu erblicken, <strong>di</strong>e zum Weltverständnis<br />

beitragen können. In seinem Aufsatz Der Bau des epischen Werkes<br />

formulierte Alfred Döblin <strong>di</strong>ese Tendenz sehr präzis:<br />

»[...] Das ist das Exemplarische des Vorgangs und der Figuren, <strong>di</strong>e geschildert<br />

werden und von denen in der Berichtform mitgeteilt wird. Es<br />

sind da starke Grundsituationen, Elementarsituationen des menschlichen<br />

Daseins, <strong>di</strong>e herausgearbeitet werden [...].« 109<br />

Da <strong>di</strong>e Literatur <strong>di</strong>eser ursprünglichen Notwen<strong>di</strong>gkeit des Erzählens<br />

wohl weiterhin entspricht, und in <strong>di</strong>eser Hinsicht ein sinngebender Akt ist,<br />

müssen wir uns auch mit der Frage der Verantwortung beschäftigen. Beim<br />

erzählerischen Akt, bei der reproduzierenden aber auch kreativen Geste<br />

des Benennens und des Beschreibens übernimmt der Mensch bewusst<br />

oder unbewusst eine große Verantwortung, eine lebenswichtige, <strong>di</strong>e sehr<br />

klar <strong>di</strong>e stän<strong>di</strong>ge Wechselwirkung zwischen Literatur und Realität zeigt.<br />

Wie zur Epoche der Runen und des Runenmeisters, der <strong>di</strong>e Welt in magischen<br />

Formeln ver<strong>di</strong>chten konnte, so kann ein Wort – eine E-Mail, ein<br />

Anruf, ein Brief, eine Anrede – <strong>di</strong>e andere, <strong>di</strong>e angesprochene Person heilen,<br />

ermutigen, trösten, vielleicht erlösen, sicher aus einer negativen Stimmung<br />

befreien. Der Austausch von Gesten und Worten mit einem<br />

Freund/einer Freun<strong>di</strong>n kann einem/einer sogar das Leben retten, zu einem<br />

provisorischen, flüchtigen Sinn für eine Handvoll Minuten/Stunden/Tage/Jahre<br />

verhelfen.<br />

Wie Helene in Marlene Streeruwitz’ Roman Verführungen. stän<strong>di</strong>g verzweifelte<br />

Anrufe von der Freun<strong>di</strong>n Püppi bekommt, bis zum tragischen<br />

Epilog, so fragt sich Gudrun, warum <strong>di</strong>e Freun<strong>di</strong>n Ly<strong>di</strong>a einfach nicht <strong>di</strong>e<br />

Kraft hatte, Kontakt zu ihr zu suchen:<br />

»Sie fragte sich, warum Ly<strong>di</strong>a nicht ihr Name eingefallen war – einfach<br />

der Name, <strong>di</strong>e gewohnte Telefonnummer, einfach noch einmal<br />

das versuchen.« (U.F., S. 50)<br />

Aber ein Wort kann auch <strong>di</strong>e entgegengesetzte Wirkung haben, es kann<br />

das Opfer psychisch und psychisch verletzen, es desillusionieren oder sogar<br />

zu Tode bringen.<br />

109 Alfred Döblin, Der Bau des epischen Werkes. In: Aufsätze zur Literatur, Freib. i. Breisgau:<br />

Walter, 1963, S. 106.

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