Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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134 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Übrigens entspricht <strong>di</strong>ese Haltung einem Programm, das in ihrem oft zitierten<br />
Satz so formuliert ist: Das Werk soll für sich stehen, <strong>di</strong>e Autorin anonym<br />
bleiben.<br />
1978 wurde ihr Manuskript, noch ehe das Buch erschienen war, mit<br />
dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet und erregte eine »ungewöhnliche<br />
Aufmerksamkeit für ein ungewöhnliches Debüt.« Danach folgten so umfangreiche,<br />
immer umfangreichere Werke, <strong>di</strong>e KritikerInnen und LeserInnen<br />
oft in Verlegenheit bringen: Das Kind der Gewalt und <strong>di</strong>e Sterne der Romani<br />
(1980), dann Dessen Sprache du nicht verstehst (1986) und später Naturgemäß<br />
(I, 1996 und II, 1998). Alle Bücher gehören zu einem riesenhaften<br />
Projekt, einem Romanzyklus, den Marianne Fritz mit Die Festung betitelt<br />
hat.<br />
Wozu eine Lektüre der Erzählung, deren Titel selbst manchen Leser-<br />
Innen belastend erscheint? Wem <strong>di</strong>e durchs Lesen erworbene Perspektive<br />
mitzuteilen? So wird uns von einem Dichter suggeriert:<br />
»Interpretieren besteht aus Kennenlernen und dem Versuch, <strong>di</strong>e dabei<br />
gewonnene Kenntnis mitzuteilen. Aber wem, wenn nicht zuerst<br />
sich? Es ist, wie etwas in sich aufziehen, ein unbekanntes Leben<br />
durch sich hindurchziehen lassen, ein anderes Stück Welt bei sich<br />
reifen lassen.« 3<br />
Exemplarisch erscheint mir aber – im Rahmen meiner Arbeit, <strong>di</strong>e sich<br />
mit mehreren Autorinnen beschäftigt und in Bezug auf meinen persönlichen<br />
Erfahrungshorizont – gerade <strong>di</strong>ese erste Erzählung der Marianne<br />
Fritz als Schlüsselformel, <strong>di</strong>e den poetologischen Ansatz der Schriftstellerin<br />
erhellen und durch <strong>di</strong>e fiktionalisierende Verklärung der Realität zeigen<br />
kann, wie in der Realität Wörter Reales erzeugen.<br />
Hinter den Wörtern wird der Leser/<strong>di</strong>e Leserin <strong>di</strong>eses Reale wieder<br />
entdecken, und bei <strong>di</strong>esem Prozess entsteht Osmose, zwischen den Buchstaben<br />
und den Gefühlen, eine Osmose, <strong>di</strong>e ja bereichernd und erhellend<br />
wirkt, als ob man einen anderen kennen gelernt hätte. Indem wir etwas<br />
oder jemanden zu verstehen versuchen, erfahren wir etwas Entscheidendes<br />
über uns selbst:<br />
»Wie lange dauert es, bis wir sagen könnten, wir hätten einiges vom<br />
anderen begriffen?« 4<br />
3 Christoph Wilhelm Aigner, Engel der Dichtung, S. 141.<br />
4 Christoph Wilhelm Aigner, S. 139.