Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marianne Fritz: Der verdächtige Glanz der „glatten“ Sätze 161<br />
c. Vermeidung des Pronomens Ich.<br />
» ›Ja. Du sagst es. Bei uns ist alles in Ordnung. So ist es.‹ « (S.V.,<br />
S. 63)<br />
Ist Berta also an ihrem Unglück, und später an dem Wahnsinn „schul<strong>di</strong>g“,<br />
oder ist sie nur zu sensibel und scheu, zu „weiblich“, wegen ihres<br />
Charakters und aufgrund der Erziehung?<br />
Was wissen wir über Bertas Umwelt? Die Erzählinstanz lässt nur erahnen,<br />
dass sie als junges Mädel der Mutter und im Allgemeinen der Familie<br />
völlig ausgesetzt war; der Vater arbeitete als Totengräber und konnte ihr<br />
sicher keinen weiteren Horizont zeigen. Die Mutter scheint in ihrer näheren<br />
Umgebung ebenso verwurzelt gewesen zu sein, wie später <strong>di</strong>e Tochter.<br />
Die sprachlichen Gewohnheiten und <strong>di</strong>e nackten Tatsachen tragen<br />
entscheidend dazu bei, dass man/frau eine bestimmte Einstellung zur Existenz<br />
und zu den Mitmenschen entwickelt. Ausnahmsweise erzählt Berta<br />
1945 dem Obergefreiten Rudolf, der ihr rät, hinaus aufs Land zu fahren:<br />
» ›Ich kann <strong>di</strong>e Mama nicht allein lassen, und Mama verläßt unsere<br />
Gasse nicht. Sie meint, hier bin ich alt geworden, hier bleib ich.‹ «<br />
(S.V., S. 42)<br />
Berta ist aber sicher nicht stumpfsinnig, in der Schule hatte sie „alles<br />
Einser“, sie ist musikalisch begabt und auch sprachlich sehr sensibel, da sie<br />
eigene Definitionen für bestimmte Gemütszustände („blattlose Zeit“)<br />
findet:<br />
»Berta fürchtete den Spätherbst, den sie <strong>di</strong>e blattlose Zeit nannte,<br />
und fühlte sich erleichtert und bis zu einem gewissen Grad ermutigt,<br />
wenn ihr der erste Schneefall <strong>di</strong>e alljährliche Hoffnung mitbrachte<br />
[...].« (S.V., S. 40)<br />
Es gab eine Zeit, in der Berta für einen Augenblick glücklich war, als sie<br />
eine Liebesnacht mit dem Musiklehrer Rudolf verbrachte. Diese Episode<br />
wird im Abschnitt Obergefreiter Rudolf inszeniert.<br />
»Im Februar 1945 erlebte Berta <strong>di</strong>e Befreiung aus der Umklammerung<br />
durch <strong>di</strong>e Schwerkraft jener Verhältnisse, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Geschichtsschreibung<br />
zusammenfaßt in dem Begriff: Zweiter Weltkrieg.« (S.V.,<br />
S. 41)<br />
Worum handelt es sich also beim vorformulierten Ausdruck Die<br />
Schwerkraft der Verhältnisse? Ist es für <strong>di</strong>e Einzelnen möglich, einen Ausweg<br />
aus einer objektiv schwierigen, wenn nicht dramatischen Lage zu finden,