Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 219<br />
Die unerfüllte Sehnsucht nach der Mutterliebe, <strong>di</strong>e zurückgewiesene<br />
Zärtlichkeit des Kindes und später der jungen Frau determinieren also <strong>di</strong>e<br />
allmähliche Auslöschung des Fühlens in Lisa und lassen sie <strong>di</strong>e sexuellen<br />
Missbräuche ihrer verschiedenen „Liebhaber“ resigniert akzeptieren.<br />
Die Ursache für <strong>di</strong>e progressive Gefühllosigkeit kann gerade in der<br />
sprachlichen Gewalt und in der physischen Kontrolle sowie in der mütterlichen<br />
Fühllosigkeit und Brutalität erkannt werden. 63<br />
Lisa ist als Erwachsene frei zu handeln, das wird auch formal betont, da<br />
jeder Abschnitt mit ihrem Namen anfängt, sie ist das Subjekt der eigenen<br />
Geschichte, und eigentlich geht und fährt und reist und bewegt sie sich<br />
viel, unermüdlich, wie schon Helene im Roman Verführungen.: manchmal<br />
glaubt sie, draußen einen Ort der Ausgeglichenheit, der Unkorrumpiertheit<br />
gefunden zu haben, einen Ort, wo ihre kindliche Seele sich selbst fühlen<br />
könnte.<br />
»Lisa hatte im Frühling den idealen Ort gefunden. An einem Bach<br />
setzte sie sich auf einen Felsbrocken und sah dem Wasser zu.<br />
Manchmal las sie dort. An <strong>di</strong>eser Stelle war nichts zerstört. Lisa<br />
mußte eine halbe Stunde mit dem Auto fahren und eine halbe Stunde<br />
gehen, um dorthin zu gelangen.« (L. L., 1. Folge, S. 35)<br />
Es sind aber nur Augenblicke der Selbsttäuschung, weil sie eigentlich<br />
nach einer Harmonie sucht, <strong>di</strong>e nur aus einem inneren Gleichgewicht<br />
kommen kann. Trotzdem rekurriert sie immer wieder auf Eskamotagen,<br />
um das Leben zu packen, Reitkurse, Skilaufen, Italienischkurse, Spanischkurse.<br />
Die Sozialisationsversuche Lisas entsprechen ihrer Bulimie,<br />
aber auch einem vitalen weiblichen Erfahrungsdurst, jener Lust, <strong>di</strong>e Männer<br />
vielleicht nicht verstehen:<br />
»Das Alles-sofort der Frauen ist kein Äquivalent des Sterbens. Es ist<br />
vielmehr Suche nach dem Unendlichen des Lebens. Öffnung zum<br />
Unendlichen in der Lust.« 64<br />
Das unterscheidet <strong>di</strong>e Einstellung vieler Frauen im Vergleich zu vielen<br />
Männern (sicher nicht zu Männern wie den Antihelden der Romane von<br />
Marlene Streeruwitz, <strong>di</strong>e den LeserInnen eher miserabel und gefühllos<br />
vorkommen):<br />
»Der Mann verlegt das Unendliche in eine Transzendenz, <strong>di</strong>e immer<br />
auf das Jenseits bezogen ist [...]. Die Frau verlegt es in eine Ausdeh-<br />
63 Vgl. dazu Rosemarie Lederer, Grenzgänger Ich (1998), S. 162.<br />
64 Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz (1991), S. 78.