Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 91<br />
»Auf der Rückseite <strong>di</strong>eser Fotos lernte/ ich schreiben. Ich schrieb<br />
meiner Mutter:/ »Du wirst auch verzweifelt sein.« Vorne/ ein alttrauriges<br />
Kind das fröhlich war.« 70<br />
Die Erzählung bringt ein einziges, mitreißendes Bewusstseinsprotokoll<br />
zustande, das autobiographische Fragmente fiktionalisiert und sie mit anderen<br />
literarischen (Zitate aus Manfields Schriften) und fiktiven Elementen<br />
zu einem bewegten Ganzen fließen lässt. Auf <strong>di</strong>ese Weise bringt das<br />
schreibende Subjekt verdrängte Erinnerungen, enttäuschte Illusionen, realisierte<br />
oder nicht realisierbare Wünsche, sowie selektiv wahrgenommene<br />
Aspekte der sinnlichen Realität in der literarischen Komposition zum<br />
Ausdruck. Darin besteht auch der Reiz des Textes, da dem lesenden Subjekt<br />
<strong>di</strong>e Rolle zugewiesen wird, sich <strong>di</strong>ese Fragmente herauszusuchen, um<br />
so möglichst viele Wahrheiten zu rekonstruieren, Parallelen und Korrelationen<br />
zu finden, Antworten provisorisch zu suchen.<br />
In <strong>di</strong>esem Sinn kann Die Kränkung von Evelyn Schlag ein überzeugendes<br />
Beispiel für den Literaturbegriff darstellen, der im Buch Grenzgänger Ich<br />
erläutert wird. In ihrem Werk hat Rosemarie Lederer als Merkmal vieler<br />
Werke der Gegenwartsliteratur <strong>di</strong>e Tatsache festgestellt, dass das Ich sich<br />
innerhalb einer „mikroskopischen Innenschau“ als Ausgangspunkt und Bezugspunkt<br />
literarischer Formen setzt, was sich oft in einer monologischen<br />
Struktur äußert.<br />
So kann sie im Allgemeinen anführen, dass<br />
»[...]<strong>di</strong>e Gegenwartsliteratur – insbesondere seit den späten sechziger<br />
Jahren – zum Seismographen für <strong>di</strong>e in<strong>di</strong>viduelle und (durch ihren<br />
Anteil am Allgemeinen) kollektive Befindlichkeit geworden« ist. 71 In<br />
den letzten Jahrzehnten hat <strong>di</strong>e so genannte neue Subjektivität aus<br />
der Verbindung zwischen Realem (im Sinne eines Neorealismus) und<br />
Phantastischem (unter Bezugnahme auf <strong>di</strong>e Romantik) einen intersubjektiven<br />
Raum eröffnet, in dem Autor/in und Leser/in interagieren.<br />
72 Dabei, so führt Lederer in ihrer Argumentation weiter, geht es<br />
den AutorInnen nicht allein darum, »in ein literarisches Subjekt [...]<br />
zu schlüpfen und wie autobiographisch zu schreiben, sondern auch um<br />
ihre Selbstkonstitution und deren prozeßhafte Entwicklung von der<br />
Kindheit her. Hierbei spielt <strong>di</strong>e Anerkennung (oder auch Verurtei-<br />
70 Evelyn Schlag, Nach New York, 1957 (Non scholae). In: Der Schnabelberg. Ge<strong>di</strong>chte,<br />
Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag, 1992, S. 72.<br />
71 Rosemarie Lederer, Grenzgänger Ich (1998), S. 301 f.<br />
72 Rosemarie Lederer (1998), S. 303.