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Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

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Marianne Fritz: Der verdächtige Glanz der „glatten“ Sätze 137<br />

In seinem Text „Zur ersten Prosa von Marianne Fritz“ hat Gerhard<br />

Melzer auf <strong>di</strong>e Biographie der Schriftstellerin hingewiesen, <strong>di</strong>e als Tochter<br />

eines Industriearbeiters zunächst eine Bürolehre absolvierte und erst später<br />

auf dem zweiten Bildungsweg maturierte und sich endlich einen Zugang<br />

zur Literatur erarbeiten konnte. 9<br />

Die Rezensionen zu ihrer Prosa betonten, dass <strong>di</strong>e Autorin sich <strong>di</strong>e<br />

Sprache auto<strong>di</strong>daktisch erkämpft hatte und lobten deren vorbildliche, kunstvolle<br />

Unbeholfenheit. In der Nachkriegszeit spielt <strong>di</strong>e Geschichte im Text der<br />

Marianne Fritz, der <strong>di</strong>e Gewalt der sprachlichen Fallen inszeniert, am<br />

Beispiel einer einfachen und sensiblen Frau, <strong>di</strong>e zur allmählichen Verstümmelung<br />

gezwungen wird, und schließlich in Wahnsinn verfällt, oder<br />

besser zum Wahnsinn „verurteilt wird“. Sehr gut zu <strong>di</strong>eser Erzählung passt<br />

<strong>di</strong>e Formulierung der Autorin, <strong>di</strong>e sich ausnahmsweise zu ihrer Konzeption<br />

geäußert hat:<br />

»Formularlebenslauf-Sicht, mein Gebiet ist’s nicht.<br />

Vielleicht befasse ich mich mit dem, was gewisse Formulare, Dokumente,<br />

karteimäßig erfaßte Lebensläufe ausgrenzen, ausblenden,<br />

weglassen, nicht in sich aufnehmen [...].« 10<br />

Wenn der Leser/<strong>di</strong>e Leserin sich nicht mit der Oberfläche der Realität<br />

begnügt und Gründlicheres erforschen und beschreiben will, soll er/sie<br />

versuchen zu erfahren, was gerade <strong>di</strong>e „Leerstellen“, das „Nichtsfestgehaltene“,<br />

das „Weggestrichene“, das „unerwähnt Gebliebene“, das „Überflüssige“,<br />

das „Überzählige“ zu bieten haben. 11<br />

Die Autorin manifestiert so ihr Interesse für alles, was ansonsten nicht<br />

„vermittelt“ (in Formularen), „weitererzählt“ (im Paß), „geplaudert“ (in<br />

Zeugnissen), „bestätigt“ (in Zulassungen), „berichtet” (in Meldezetteln), „bescheinigt“<br />

(in Entlassungen) wird, also für <strong>di</strong>e Dinge, <strong>di</strong>e sachliche, „objektive“,<br />

logozentrische Verfahrensweisen nicht erscheinen lassen, all das<br />

Ordentliche, was üblicherweise in einem Lebenslauf „drinnen stehen soll“.<br />

Aber <strong>di</strong>e Sprache all der so genannten Sachkun<strong>di</strong>gen, der Beamten, der<br />

Richter, der Meinungsforscher, Politologen wie Soziologen usw., <strong>di</strong>e beruflich<br />

für sich das Recht beanspruchen, das Leben der Mitmenschen zu<br />

9 So Gerhard Melzer, „Zur ersten Prosa von Marianne Fritz“. In: Die Presse, Wien<br />

7./8. 9. 1980, Beilage, S. IV.<br />

10 Marianne Fritz, Aus Briefen der Autorin an den Lektor. In: »Was soll man da machen.«<br />

Eine Einführung zu dem Roman ›Dessen Sprache du nicht verstehst‹, Frankfurt/M.: Suhrkamp<br />

Verlag, 1985, S. 7.<br />

11 Ebenda.

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