Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 89<br />
Dazu sollte daran erinnert werden, dass Eltern und Erzieher jahrhundertelang<br />
der Genussfähigkeit des Menschen, der Sinnlichkeit als potenzielle<br />
Einheit von körperlichen und geistig-seelischen Aspekten entgegenwirken<br />
und sie vermeiden wollten. 67<br />
Die Figur des Neinsagers spielt auch in der Erzählung Touché im<br />
gleichnamigen Band eine ähnliche Rolle, ebenso in Rilkes Lieblingsge<strong>di</strong>cht<br />
(der Vater von Gudruns Freun<strong>di</strong>n Ly<strong>di</strong>a): der Vater verkörpert <strong>di</strong>e strengen<br />
Gesetze und Verbote der Gesellschaft, <strong>di</strong>e unerbittliche Norm, <strong>di</strong>e<br />
keine Abweichungen erlaubt.<br />
In der gesellschaftlichen Wirklichkeit findet nämlich ein Mechanismus<br />
statt, der schwere Folgen haben kann, indem <strong>di</strong>e geschlechtsspezifischen<br />
Erwartungshaltungen der Erziehungspersonen oft <strong>di</strong>e Kon<strong>di</strong>tionierung<br />
der jungen Frauen und Männer bestimmen. 68 Entscheidend sind natürlich<br />
<strong>di</strong>e Männlichkeits- und Weiblichkeitsmuster, <strong>di</strong>e von der Kindheit an<br />
durch <strong>di</strong>e Erziehung programmiert werden. Die junge Frau erlernt zum<br />
Beispiel schnell, dass sie um Anerkennung und Liebe kämpfen muss. So<br />
erinnert sich auch <strong>di</strong>e Ich-Erzählerin auch den Versuch, stän<strong>di</strong>g <strong>di</strong>e brave<br />
Tochter zu spielen. Die negativen Erfahrungen auf dem Lande, <strong>di</strong>e Angst vor<br />
den Gefahren der Technologie und insbesondere das Bild des Traktors<br />
entspringen aus dem Mangel an Selbstsicherheit, den der Vater verursachte,<br />
mit seiner Macht, mit seiner Ängstlichkeit, <strong>di</strong>e eine freie Entwicklung<br />
der Persönlichkeit blockierten:<br />
»Mehr als den Traktor, der so schwer und sperrig für mich ist, hasse<br />
ich meinen Vater, der mich mit seiner Ängstlichkeit gefesselt hat. Ich<br />
denke an <strong>di</strong>e japanischen Frauen mit den verschnürten Füßen, <strong>di</strong>e<br />
nur kleine Schritte machen konnten. Mein Vater ist ein Zuchtmeister<br />
gewesen.« (Die Kr., S. 25)<br />
Die Einschüchterung und als Konsequenz <strong>di</strong>e Befolgung der Befehle<br />
werden durch Ängstlichkeit erzielt: Angst erregen, um den anderen/<strong>di</strong>e<br />
andere zu verwirren, zu verunsichern, damit er/sie keinen festen Identitätskern<br />
entwickelt und von dem gebieterischen Willen lebenslang abhängt.<br />
Eine wesentliche Voraussetzung für <strong>di</strong>e Ablehnung der erlernten Verhaltensschemata<br />
ist der Prozess der Bewusstwerdung, der in Die Kränkung<br />
durch den auferlegten Umzug und <strong>di</strong>e Krise der Beziehung zu Jack in<br />
67 Vgl. Rosemarie Lederer, Grenzgänger Ich (1998), S. 52.<br />
68 Rosemarie Lederer (1998), S. 108 ff.: „Wie ,richtige Frauen‘ gemacht werden“.