Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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88 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
»Ich bin in einer Kleinstadt aufgewachsen, mein Vater war dort<br />
Rechtsanwalt. Die Neugier des Kindes nach kaltem Wasser, spitzen<br />
Steinen, Treppengeländern, Fensterbrettern, Dachböden, nach dem,<br />
was auf der anderen Seite der Straße passiert, nach ungewaschenem<br />
Obst und dumpfen Gerüchen wußte der Vater im Keim zu ersticken.«<br />
(Die Kr., S. 10-11)<br />
Wie für <strong>di</strong>e Autorin selbst, wirkt das Aufwachsen an einem bestimmten,<br />
begrenzten Ort und vor allem das Verhältnis zu der Vaterfigur entscheidend.<br />
Anders als in Brandstetters Reise weist hier <strong>di</strong>ese Person keine<br />
Spur von Phantasie, von geheimen Wünschen und traumhaften Gedanken<br />
auf: im Gegensatz zum Vater Brandstetters wird hier <strong>di</strong>e Vaterrolle stark<br />
kritisiert. Er war derjenige, der immer wusste, <strong>di</strong>e Neugier des Kindes im<br />
Keim zu ersticken.<br />
»Der Vater war der immer belastende Zeuge des Draußen, er verleumdete<br />
<strong>di</strong>e Winkel und Ecken, er war der Neinsager.« (Die Kr.,<br />
S. 11)<br />
Stärker scheint mir <strong>di</strong>e Kritik an der patriarchalen Welt zu sein, an einer<br />
machtvollen Position, <strong>di</strong>e <strong>di</strong>e Neugier, d.h. <strong>di</strong>e Spontaneität, <strong>di</strong>e Phantasie,<br />
und damit den potentiell unbegrenzten und potentiell gefährlichen<br />
Reichtum der Sinnlichkeit zu unterdrücken versucht.<br />
Die Ich-Erzählerin wiederholt im erlebten Selbstgespräch den Ausdruck,<br />
den der Vater verwendete, um <strong>di</strong>e naiven Unterhaltungsmomente<br />
des Kindes zu kritisieren und jedes Stück Freiheit zu verbieten:<br />
»Welch ein Leichtsinn, das Kind nahe dem Bahndamm spielen zu<br />
lassen, wo es im trockenen Unkraut sitzt, <strong>di</strong>e Beize der Schwellen mit<br />
der sommerlichen Luft einzieht, <strong>di</strong>e über den Schienen stillsteht, bis<br />
der Zug aus Wien sich mit dem Klingeln der Bahnbalken ankün<strong>di</strong>gt<br />
und <strong>di</strong>e kurze Stille, <strong>di</strong>e darauf noch folgt, mit einem Knall durchtrennt!«<br />
(Die Kr., S. 11)<br />
Klüger erschien es ihm, dem vernünftigen Erwachsenen, auch noch <strong>di</strong>e<br />
ersehnten Gummistiefel zu verweigern, <strong>di</strong>e dem Kind ermöglicht hätten,<br />
den Bach zusammen mit den Nachbarskindern zu durchwaten. Die Worte,<br />
das unerbittliche Urteilen, <strong>di</strong>e Strenge des Vaters verursachten der kindlichen<br />
Seele einen tiefen Schmerz, sogar Scham.<br />
»Das Kind, ohne Stiefel, schämt sich am Ufer der kleinen Wehr, <strong>di</strong>e<br />
es gebaut hat und wo das gestaute Wasser schon handwarm ist.« (Die<br />
Kr., S. 11)