Studia austriaca - Università degli Studi di Milano

Evelyn Schlag: Die Sehnsucht nach dem Gespräch 63
des Universums vertäut. Nicht er dreht sich mit der Erde ab, die
Sonne geht weg. Alles wird einem damit genommen.« (BR, S. 7)
Die Struktur des Textes wird gleich am Anfang offenbar: die Ebene der
objektiven Beschreibung, also die Erzählweise in der Er-Form und die
subjektive Perspektive des Protagonisten sind immer tief ineinander verflochten.
Die Oberfläche, die äußere Realität wird beobachtet, durchschaut,
ihre Einzelheiten sind aufmerksam geschildert, damit man/frau –
die erzählerische Instanz, dann der/die interpretierende Leser(in), zuletzt
eventuell der/die Übersetzer(in) – zur Welt des Unbewussten, zur Dimension
der unausgedrückten Emotionen gelangen kann. Was die Erzählerin
eigentlich interessiert, ist die Entdeckung, die Analyse, das Herzeigen von
Leidenschaften, Gefühlen, dem authentischen Wesen der Menschenfiguren,
um die sie sich kümmert. Ihre Texte beschäftigen sich immer mit den
psychischen Vorgängen und Inhalten, indem sie die imaginären Bildungen
der Figuren (Träume, Phantasien, vor allem aber Selbstreflexionen und
Gedanken) zum Ausdruck bringen. Vor allem in der ersten Phase ihrer
Produktion (ich möchte hier auch auf Die Kränkung hinweisen) ist die Absicht
deutlich erkennbar, den Zusammenhang zwischen den geschilderten
Gesten und der erzählten Geschichte auf der einen Seite und den Gefühlen
und Vorstellungen der Hauptpersonen auf der anderen Seite darzustellen.
Durch diese respektvolle, vorsichtige Analyse versucht die erzählerische
Instanz, Aussagen über den Sinn und über die Ursachen der
Handlungen sowie über die unbewusste, psychische Welt der Figuren zu
formulieren. Alle, die Protagonistin von Beim Hüter des Schattens (1984), die
nach Kanada fliegt, Robert in Brandstetters Reise, die Ich-Erzählerin in Die
Kränkung, die Frauenfiguren in den späteren Texten, sind durch das Drängen
nach Authentizität charakterisiert. Auf verschiedenen Wegen, durch
verschiedene Mittel versuchen sie, wahr, authentisch zu leben, zu empfinden,
zu lieben, um dem „falschen Leben“ zu entfliehen.
In der feministischen Literaturwissenschaft wird diese Zugangsweise,
diese Art, die Welt wahrzunehmen, sich der Realität anzunähern, als spiegelbildliche
Vorstellungswelt definiert. Diese Perspektive ist durch die Anerkennung
der Unvollständigkeit des Menschen und seiner Sterblichkeit,
durch das Wissen um seine Geschlechtszugehörigkeit und die jeweilige
Abhängigkeit vom anderen Geschlecht, sowie durch den Versuch charakterisiert,
sich an die Welt anzupassen. Einer fremden, erstarrten Alltagsdimension
gegenüber versuchen die Protagonisten der in meiner Arbeit
analysierten Erzählungen an Authentizität zu gewinnen, indem sie allmählich
aufmerksam auf die inneren Wünsche und Projektionen werden.