Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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214 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Aus welchem Milieu stammt Lisa? Die Eltern waren Durchschnittsbürger,<br />
<strong>di</strong>e Mutter Boutiquebesitzerin, der Vater Zivilingenieur, sie bewohnten<br />
ein Siedlungshaus in der Rauhsteingasse.<br />
Der Grund für Lisas Scheitern am Leben und an der Liebe ist <strong>di</strong>e innere<br />
Entleerung, das Erlöschen des Gefühls: sie ist aber auch nicht im<br />
Zeichen des Gefühls erzogen worden. Dank der schlichten, eiskalten Objektivierung<br />
der Erzählebene erfährt der Leser/<strong>di</strong>e Leserin <strong>di</strong>e schrecklichen<br />
Hintergründe von Lisas Kindheit:<br />
»Ihre Mutter war immer ungnä<strong>di</strong>g gewesen. Lisa hatte es nicht richtig<br />
machen können. Daran war nichts zu ändern gewesen. Lisas Mutter<br />
wollte Männer.« (L. L.,1. Folge, S. 91)<br />
Keine Fürsorglichkeit hat Lisa erlebt, sondern <strong>di</strong>e Rivalität in einer sehr<br />
elementaren, unbewussten Form, nach einem tra<strong>di</strong>tionellen Vorbild: <strong>di</strong>e<br />
Beziehung Mutter-Tochter muss aufgegeben werden, um in das Begehren<br />
des Mann-Vaters einzutreten. Nach der Interpretation der Lehre Freuds<br />
von Luce Irigaray kann sich <strong>di</strong>e Liebe zur Mutter im Okzident immer nur<br />
in Form der Substitution vollziehen: entweder <strong>di</strong>e eine oder <strong>di</strong>e andere:<br />
»Um vom Mann begehrt, geliebt zu werden, muß man <strong>di</strong>e Mutter<br />
ausschalten, an ihre Stelle treten, sie auslöschen, um ihr gleich zu<br />
werden. Die Möglichkeit einer Liebe zwischen Mutter und Tochter<br />
wird dadurch zerstört. Sie sind gleichzeitig Komplizinnen und Rivalinnen,<br />
um an <strong>di</strong>e einzig mögliche Position im Begehren des Mannes<br />
zu gelangen.« 57<br />
In der fiktionalisierten Realität des Romans wird <strong>di</strong>ese Rivalität in umgekehrter<br />
Richtung dargestellt: <strong>di</strong>e Mutter liebt Lisa nicht, sie will <strong>di</strong>e<br />
Tochter nicht lieben, weil in ihrem Leben <strong>di</strong>e Männer <strong>di</strong>e zentrale Rolle<br />
spielen, deshalb bietet sie Lisa keine Zärtlichkeit an, und sie spricht auch<br />
nicht zu ihr, was entscheidend wäre, ohne einen Zwischenraum des Austauschs<br />
von Worten und Gesten zu schaffen, was eine intersubjektive Beziehung auch<br />
ermöglichen würde.<br />
In der ersten Phase ihres Lebens hat Lisa also das Muster der Selbstliebe<br />
sicher nicht verinnerlichen können, weder vom Vater noch von der<br />
Mutter, und das wirkt besonders negativ, sogar zerstörerisch, auf ihre Ich-<br />
Konstitution als Erwachsene:<br />
»Ein Kind, das nicht geliebt wurde, trägt <strong>di</strong>e Feindseligkeit gegen sich<br />
selbst in sich – was letztendlich auch zur Destruktion des eigenen<br />
57 Luce Irigaray, Ethik der sexuellen Differenz (1991), S. 122-123.