Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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96 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Es geht um ein zunehmendes Gefühl des Fremdseins, um <strong>di</strong>e Furcht,<br />
aus dem gewohnten Leben entwurzelt zu werden, <strong>di</strong>e Angst vor der<br />
Trennung, <strong>di</strong>e auf jene erste, ursprüngliche Trennung von der Mutter<br />
hinweist, wie <strong>di</strong>e Ich-Erzählerin – schon im Krankenhaus liegend – sich<br />
selbst <strong>di</strong>agnostiziert:<br />
»Ich habe Heimweh, ich liege fremd hier. Als ich ein Kind war, habe<br />
ich mir nie vorstellen können, von meinem Heimatort wegzuziehen.<br />
Das Vertraute zu verlieren, war mir der schrecklichste Gedanke. Jede<br />
Trennung geht durch mich hindurch, und ich falle auseinander.« (Die<br />
Kr., S. 140)<br />
Auf das allmähliche Verschwinden von Jack reagiert <strong>di</strong>e Protagonistin<br />
mit unerhörtem Leiden.<br />
Die ersten Symptome der physischen Krankheit, der Tuberkulose (»<strong>di</strong>e<br />
Schnüre um deine Brust, <strong>di</strong>e Stiche im Rücken«), erscheinen deshalb fast<br />
notwen<strong>di</strong>g, um der Verzweiflung einen Namen zu geben, so wie der Rat<br />
von Kathleen lautet: »[...] laß <strong>di</strong>ch krankwerden dabei und nichts mehr<br />
verantworten […].« (Ebd.)<br />
Im Innersten will <strong>di</strong>e junge Frau <strong>di</strong>e schmerzhafte Wahrheit vergessen,<br />
<strong>di</strong>e sie sich selbst weder zugestehen darf noch will oder kann:<br />
»Wenn Jack mich betrügt, bricht alles zusammen.« (Die Kr., S.48)<br />
Die Pausen während eines Telefongesprächs sowie während der vielen<br />
Abende (»an denen wir das Wichtigste verschweigen«, Die Kr., S. 49) signalisieren<br />
das Ende ihrer Beziehung, indem sie <strong>di</strong>e Unmöglichkeit eines<br />
verbindlichen, inhaltsvollen Dialogs ausdrücken: das Schweigen, veredelt<br />
gelegentlich vom gemeinsamen Lachen, manifestiert<br />
»[...] unsere eigene Feigheit, <strong>di</strong>e Wahrheit zu sagen, <strong>di</strong>e Wahrheit zu<br />
denken.« (Die Kr., S. 49)<br />
Typisch für Künstler und Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, bringt <strong>di</strong>e<br />
tragische Realität der Krankheit, <strong>di</strong>e körperliche „Befindlichkeit“, das Unbehagen<br />
am Leben und am Schreiben zum Ausdruck und beweist zugleich<br />
<strong>di</strong>e künstlerische Befähigung. 82<br />
In ihrem Essay Krankheit als Metapher schreibt Susan Sontag, dass viele<br />
der literarischen und erotischen Verhaltensweisen, <strong>di</strong>e als „romantischer<br />
82 So schreibt Christina von Braun in Bezug auf Künstler und Schriftsteller des 19.<br />
Jahrhunderts wie Flaubert, Proust, Huysmans. Vgl. Christina von Braun (1994), S. 356 ff.