Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Marlene Streeruwitz: Eine Poetik des Suchens 209<br />
Zurichtung zur „richtigen Frau“ nur passive Eigenschaften entwickelt hat,<br />
und das gibt ihr keine Ressource, keine Möglichkeit, den eigenen Lebenslauf<br />
selbst zu bestimmen. Die Summe <strong>di</strong>eser Eigenschaften, merkt im zitierten<br />
Band Rosemarie Lederer an, würde das „A-B-C der richtigen Frau“<br />
48 bilden: in Bezug auf unsere Lisa, schon am Beispiel ihres Briefes an<br />
Doktor Adrian, kann der Leser/<strong>di</strong>e Leserin sicher Sanftmut und vor allem<br />
Geduld, Opferbereitschaft und Rücksichtnahme, Bescheidenheit und Verzichten-Können<br />
(»ich kann verstehen, dass...«) und nicht zuletzt Unterwürfigkeit<br />
(»Ich bitte Sie aber, mir zumindest zu schreiben«) <strong>di</strong>rekt bemerken.<br />
Wie ist Lisa auf <strong>di</strong>e Idee gekommen, an einen fremden, ihr völlig unbekannten<br />
Mann zu schreiben, an dem sie mehr als ein Jahr vorbeigegangen<br />
ist, aber in der (symbolisch) entgegensetzten Richtung?<br />
»Jeden Morgen traf Lisa auf der Fischerstiege den Arzt Dr. Karl<br />
Adrian. Sie gingen aneinander vorbei. Lisa ging bergab zur Schule.<br />
Dr. Adrian hinauf zu seiner Or<strong>di</strong>nation.« (L. L., 1. Folge, S. 2)<br />
Der Brief Lisas stellt den Anfangspunkt des Romans dar. Von <strong>di</strong>esem<br />
Text ab wird dem Leser/der Leserin <strong>di</strong>e ganze Existenz Lisas enthüllt, indem<br />
sie ihre Sommerferien verwartet: <strong>di</strong>e Textpassagen werden durch <strong>di</strong>e<br />
Abbilder der Alm und Ausschnitte aus Zeitungsartikeln unterbrochen, mit<br />
kursiv geschriebenen Didaskalien, <strong>di</strong>e das hoffnungslose Warten Lisas<br />
dramatisieren. Der Briefträger fährt (fast) jeden Tag vorbei, über <strong>di</strong>e<br />
Wiese, dem Haus gegenüber, meistens auf der Straße zum anderen Haus,<br />
aber oft gibt es keine Post, und letztendlich wird er den ersehnten Brief<br />
von Doktor Adrian nie bringen.<br />
Obwohl sie eigentlich viel unternimmt, fühlt sie sich immer schwach<br />
und kraftlos:<br />
»Trotz des vielen Schlafens konnte Lisa nur mit Mühe aufstehen.<br />
Lisa sagte sich, es wäre besser, soviel zu schlafen, als zu trinken zu<br />
beginnen. Lisa schlief den ganzen ersten Winter in G. soviel.« (L. L.,<br />
1. Folge, S. 32)<br />
Seit der Kindheit hat sie sich also keine aktive Einstellung zum Leben<br />
formuliert, nur ein „langsames Dahin“ gewünscht.<br />
Als zwangsläufige Folge von Verinnerlichung der Eigenschaften einer<br />
„richtigen Frau“ werden auch Depression, Neid und Eifersucht im zitier-<br />
48 Rosemarie Lederer, Grenzgänger Ich (1998), S. 119.