Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
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116 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
Es handelt sich wiederum um Vorgänge, <strong>di</strong>e in der Literatur am klarsten<br />
erscheinen: durch <strong>di</strong>e literarische Produktion bemerkt man, wie <strong>di</strong>e<br />
Sprache eigentlich viel stärker ist, als wir annehmen. Dazu schreibt Ernst<br />
Leisi:<br />
»So wie Angst allein mit Worten vertrieben werden kann, so kann sie<br />
auch allein mit Worten erzeugt werden; ja <strong>di</strong>e durch Worte erzeugte<br />
Angst ist oft schlimmer als <strong>di</strong>e durch eine reale Situation erzeugte.«<br />
110<br />
Die Grundposition, von der <strong>di</strong>e Autorin hier auszugehen scheint, entspricht<br />
immer einer sich selbst befragenden Haltung, <strong>di</strong>e auf Sicherheiten,<br />
auf <strong>di</strong>e solide Bestän<strong>di</strong>gkeit der Thesen verzichten mag, um heuristisch<br />
immer neue Etappen innerhalb eines Prozesses zu finden:<br />
»Was für eine Geschichte erzähle ich <strong>di</strong>r da, dachte Gudrun. Mit<br />
welcher Geschichte lernst du mich kennen?« (U.F., S. 51)<br />
Der Mensch stellt sich am Anfang einer Beziehung doch mit bestimmten<br />
Geschichten vor, es werden bestimmte Episoden mit bestimmten<br />
Formulierungen erzählt, das eigene Leben wird im nachhinein für <strong>di</strong>ese<br />
neuen Freunde gestaltet, wir erfinden uns neu in solchen Momenten.<br />
Eine zentrale Rolle in <strong>di</strong>eser Erzählung spielt der Satz, der das Verliebtsein<br />
signalisiert, da der Mann Gudrun gestehen muss, dass er etwas<br />
Außergewöhnliches empfindet:<br />
»Verliebt oder verfragt, ich habe mich in <strong>di</strong>ch verfragt, ich will so viel<br />
von <strong>di</strong>r wissen.« (U.F., S. 54)<br />
Wenn das reflexive Verb „sich verlieben“ schon <strong>di</strong>e Prozessualität ausdrückt,<br />
<strong>di</strong>e sich schrittweise, allmählich ausdehnt und vertieft, und dem<br />
italienischen reflexiven „innamorarsi“ entspricht, so stellt das erfundene<br />
Verb „sich verfragen“ ein klares Beispiel für <strong>di</strong>e innovative Kraft der<br />
Sprache dar. 111<br />
110 Ernst Leisi (1993), S. 91.<br />
111 Zum Thema „sprachliche Kreativität“ schreibt Ernst Leisi folgendes: »Man redet<br />
heute, im Rückgriff auf Humboldt, angeregt durch Chomsky, sehr viel von der Kreativität<br />
der Sprache. Diese Kreativität ist tatsächlich ungeheuer [...]. Aber: was normalerweise<br />
unter sprachlicher Kreativität verstanden wird, ist eine ›Kreativität zweiter Ordnung‹, sie<br />
besteht, z. B. bei der Wortbildung, aus der Fähigkeit zur fast unbegrenzten Ableitung aus<br />
etwas Gegebenem.« Ernst Leisi (1993), S. 22.