Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Studia austriaca - Università degli Studi di Milano
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
238 Das Leben in den Worten ~ <strong>di</strong>e Worte im Leben<br />
selbst in Erinnerung zu rufen, im Selbstgespräch „dürfen“ nur noch<br />
Fragmente davon durchscheinen.<br />
Durch <strong>di</strong>ese „beschä<strong>di</strong>gte“ Sprache, durch <strong>di</strong>ese Diskursfetzen wird<br />
aber Helene bewusst, dass sie selbst mit ihrer allzu großen, idealisierenden<br />
Liebe zu Gregor dazu beigetragen hat, <strong>di</strong>ese Opfer-Täter-Falle zu errichten:<br />
»Sie wußte, sie hatte ihren katholischen Gefühlsüberschwang auf<br />
<strong>di</strong>ese Liebe übertragen. Sie hatte Gregor zu ihrem Gott gemacht. Zu<br />
ihrem Vater. Und wie der Vater sie enttäuscht hatte, so hatte Gregor<br />
sie enttäuschen müssen.« (Verf., S. 115)<br />
Das Bewusstwerden bedeutet auf jeden Fall schon einen Schritt vorwärts,<br />
auf dem Wege, der zur Überwindung des Leidens führen wird:<br />
»Es gab sicher eine Theorie, nach der sie, das Opfer, <strong>di</strong>e Situation<br />
erzwungen hatte. Aber Helene fühlte sich nur aus der Täuschung<br />
entlassen. Und keine Erkenntnis daraus zu beziehen. Helene lachte.<br />
Sie wußte das alles.« (Verf., S. 115)<br />
Sehr interessant, gerade im Verhältnis zu der äquivalenten Szene in der<br />
Erzählung von Marianne Fritz, in der Berta Schrei umsonst versucht, dem<br />
Beharren der Frau Lehrerin gegenüber <strong>di</strong>e eigene Perspektive zu vertei<strong>di</strong>gen,<br />
erscheint der Leserin in <strong>di</strong>esem Roman von Marlene Streeruwitz der<br />
Abschnitt, der <strong>di</strong>e Besprechung Helenes mit der Turnlehrerin Katharinas<br />
beschreibt.<br />
In ihrem 2000 im Musilhaus gehaltenen Vortrag hat <strong>di</strong>e Autorin eine<br />
negative Figur ihrer Kindheit erwähnt, <strong>di</strong>e Frau Lehrer(!) Grill, <strong>di</strong>e sie in<br />
der dritten Klasse Volksschule unterrichtete, gerade im Jahre 1957 (also<br />
innerhalb derselben historischen und sozio-kulturellen Landschaft, in der<br />
<strong>di</strong>e Tragö<strong>di</strong>e der Berta Schrei in Marianne Fritz’ Erzählung explo<strong>di</strong>ert).<br />
Die streng repressive „Erziehung“, von Frau Lehrer Grill verkörpert, ließ<br />
keinen Raum für (kindliche, harmlose) Abweichungen von der Norm, <strong>di</strong>e<br />
unerbittlich „körperlich“! bestraft wurden:<br />
»Es war fast ein Ritual. Die Frau Lehrer Grill ließ mich erzählen.<br />
Ausführlich. Dann kam <strong>di</strong>e Entlarvung. Der Urteilspruch „Lüge“.<br />
Und dann Ecke stehen. Den Rücken zur Klasse. Hohn und Spott im<br />
Rücken. Klarerweise waren alle auf Seiten der Frau Lehrer Grill. Lügen.<br />
Das war eine Todsünde. Die Frau Lehrer Grill schlug auch<br />
manchmal hin [...]. Und so stand ich in der Ecke. Schultage lang. Der<br />
Körper mußte für meine Phantasie bezahlen.«